Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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zusammen mit der, die auf der Basis der Unterscheidung zwischen Ausdrucks- und Äußerungsbedeutung zustande kommt? Ja und nein. Betrachten wir dazu den folgenden Satz: Freiburg ist eine grüne Stadt. Wird dieser Satz in einem politischen Kontext geäußert, dann wird man grün in dem Sinne interpretieren, dass die Freiburger gerne grün wählen oder zumindest ökologisch bewusst leben. Wird der Satz aber im Kontext von Stadtplanung und Lebensqualität geäußert, dann ist es eher naheliegend, an eine Vielzahl von Grünflächen zu denken. Je nach Äußerungskontext hat dieser Satz und insbesondere das Adjektiv grün also eine andere Interpretation, eine andere Äußerungsbedeutung. Und bei der Bestimmung der Äußerungsbedeutung gehen sicherlich kontextuelle Inferenzen (in irgendeiner Form) ein. Damit sind die Äußerungsbedeutungen von grün aber sowohl kodiertkodiert (da sie auf dem Adjektiv grün basieren) als auch kontextuell inferiertinferiert (wie gerade ausgeführt). Versteht man die Aussage, dass sich die Semantik mit kodierter Information beschäftigt, jetzt so, dass dies kontextuelle Inferenzen strikt ausschließt, dann kommt man zu dem erwähnten engen Verständnis von Semantik (im Sinne von Ausdrucksbedeutung). Lässt man dagegen zu, dass die in der Semantik verhandelten Bedeutungen neben [!] kodierter Information auch (bis zu einem gewissen Grad) auf kontextuellen Inferenzen beruhen dürfen, dann kommt man zu einem wesentlich weiteren Begriff, der auch Aspekte der Äußerungsbedeutung einschließt. Wir werden in Fällen wie dem gerade diskutierten in Abschnitt 3.4 Explizit kodierte Äußerungsbedeutungvon explizit kodierter ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutungexplizit kodierte (oder allgemeiner von grammatisch determinierter ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutunggrammatisch determinierte) sprechen, da es hier in erster Linie um Aspekte der Äußerungsbedeutung geht, die auf einer expliziten sprachlichen Kodierung (oder allgemeiner auf einer grammatischen Basis) beruhen. Wo man die Grenze zwischen Semantik und Pragmatik zieht, wird dann davon abhängen, welche Art kontextuell inferierter Information man noch in der Semantik zulassen will.

      [36]3.2 Äußerungssituation und deiktische Interpretation

      Da die Interpretation deiktischer Ausdrücke den Bezug auf die Äußerungssituation erfordert und damit ein hohes Kontextabhängigkeit deiktischer AusdrückeMaß an Kontextabhängigkeit aufweist, ist es sicher nicht verkehrt, deiktische Ausdrücke im Rahmen der Pragmatik zu diskutieren. Eine zentrale Eigenschaft deiktischer Ausdrücke wurde bereits im letzten Abschnitt angedeutet: Im Gegensatz zu Eigennamen wie Lisbeth oder Erna weisen deiktische Ausdrücke wie ich oder du keinen festen inhaltlichen Bezug, keine feste Referenz auf. Worauf deiktische Ausdrücke in einer konkreten Äußerung referieren, wird über ihre Ausdrucksbedeutung und relevante Eigenschaften der Äußerungssituation festgelegt.

      Wird die Referenz deiktischer Ausdrücke allein über die Ausdrucksbedeutung und relevante Eigenschaften der Äußerungssituation festgelegt, dann spricht man auch Rein indexikalische und echt demonstrative Ausdrückevon rein indexikalischenrein indexikalisch Ausdrücken. Tatsächlich sind die Pronomina ich und du in diesem Sinne rein indexikalisch, genauso wie das Temporaladverb jetzt oder das Lokaladverb hier. Demonstrative Ausdrücke wie der, dieser Mann oder auch das lokale Adverb dort sind dagegen nicht rein indexikalisch, da für die eindeutige Identifizierung der (intendierten) Referenz im Allgemeinen noch weitere Informationen erforderlich sind wie z. B. ein gestischer Verweis auf die gemeinte Person. So wird ein Sprecher bei der [37]Äußerung des Satzes »Diesen Mann dort drüben, den konnte ich noch nie leiden!« in Richtung der fraglichen Person nicken oder vielleicht sogar mit dem Finger auf sie zeigen (ZeigegestusZeigegestus). Ist die fragliche Person auch auf andere Art und Weise identifizierbar (z. B., weil er gerade großspurig eine Runde Champagner spendiert hat), dann kann der Zeigegestus auch entfallen. Echt demonstrativDeixisecht demonstrativ deiktische Ausdrücke sind dadurch charakterisiert, dass sie ohne einen Zeigegestus überhaupt nicht inhaltlich interpretiert werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Partikel so in einem Satz wie »Ich habe gestern einen Fisch gefangen, der war SO groß!«.

      Der Begriff des rein indexikalischen Ausdrucks geht im Wesentlichen auf die Vorstellung zurück, dass die für die Interpretation von Ausdrücken wie ich, du, hier oder jetzt relevanten Eigenschaften des Äußerungskontexts (Wer ist der Sprecher? Wer ist der Adressat? Wo fand die Äußerung statt? Wann fand die Äußerung statt?) über Indexeinen Index, also eine geordnete Liste von (abstrakten) Gegenständen der Art <Sprecher, Adressat, Ort, Zeit …>, modelliert werden können. Der Index einer Äußerungssituation beinhaltet damit alle relevanten Informationen zur Interpretation dieser Ausdrücke. In diesem Sinne sind sie nur vom Index der Äußerungssituation abhängig (vgl. hierzu z. B. die Arbeiten von Lewis 1970 und Kaplan 1989; weitere Diskussion, insbesondere zum Deutschen, findet sich z. B. in Ehrich 1992a).

      Mit der Art der Referenz (Person, Ort, Zeit) werden in der Regel mindestens drei Typen deiktischer Ausdrücke unterschieden: personale DeixisDeixispersonale, lokale DeixisDeixislokale und temporale DeixisDeixistemporale. Für alle diese deiktischen Ausdrücke ist nicht nur charakteristisch, dass sie über die Äußerungssituation zu interpretieren sind. Es ist auch charakteristisch, dass diese Interpretation auf eine ganz spezifische Art und Weise erfolgt: Deiktische Ausdrücke wie ich, jetzt oder hier werden systematisch auf ein mehrdimensionales Koordinatensystem bezogen, in dessen Mittelpunkt (im Normalfall) der Sprecher zu lokalisieren ist. Dieser Mittelpunkt wird mit Bühler (1934) die Ich-Jetzt-Hier-Origo oder einfach Origobezug deiktischer Ausdrückekurz die OrigoOrigo (der Ursprung, das deiktische ZentrumZentrumdeiktischesOrigo) genannt.

      Als deiktisch oder indexikalisch bezeichnet man sprachliche Ausdrücke, die nicht aus eigener Kraft direkt auf einen (abstrakten) Gegenstand referieren, sondern deren Referenz relativ zum deiktischen Zentrum, der Origo, über relevante Eigenschaften der Äußerungssituation und weitere Hinweise wie z. B. Gesten festgelegt wird.

      Dieser relationale Bezug auf die Origo lässt sich am besten an einem Ein BeispielBeispiel illustrieren: Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Promotionsfeier und Sie hören eine Ihnen unbekannte Person in der Ferne sagen: »Dort hinten habe ich gestern ganz alleine das Buffet aufgebaut.« Nehmen wir außerdem an, Sie stehen gerade direkt neben dem Buffet. Dann werden Sie keine Probleme haben aufzulösen, was die fragliche Person mit »dort hinten« gemeint hat, und Sie werden sich etwas denken in der Art: »Ah, hier hat er gestern (angeblich) ganz alleine das Buffet aufgebaut«. Vergleicht man nun die beiden Äußerungen, dann ist klar, dass sich die beiden lokalen Adverbien dort und hier in den Äußerungen auf denselben Ort beziehen (den Ort des Buffets) und die beiden Personalpronomina ich und er auf dieselbe Person (die Person, die das Buffet nach eigener Aussage ganz alleine aufgebaut hat). Aber während der Sprecher der ersten Äußerung das Adverb dort benutzt, um sich auf den Ort des Buffets zu beziehen, und das Pronomen ich, um auf sich selbst zu referieren, benutzen Sie in ihrer gedanklichen Äußerung bei gleichem Bezug das Adverb hier und das Pronomen er. Die Wahl des pronominalen Ausdrucks hängt also offenbar erstens davon ab, wer der Produzent der Äußerung ist: Mit ich bezieht sich der Produzent einer Äußerung auf sich selbst, mit er bezieht er sich (im Normalfall) auf eine dritte Person (und mit du bezieht er sich auf den Adressaten der Äußerung). Zweitens hängt sie aber (mindestens) im Fall von dort und hier auch davon ab, wie der fragliche Ort relativ zum Sprecher zu verorten ist: Ist er in seiner unmittelbaren Nähe, dann wird der Sprecher hier verwenden. Ist der Ort aber hinreichend weit vom Sprecher entfernt, dann wird er dort verwenden.

      Dieses Beispiel zeigt, dass man bei lokaler Deixis zwischen Nahraum und (gerichteter) Distanzraumeinem NahraumNahraum, dem Hier, der den Ort des Sprechers inkludiert, und einem komplementären DistanzraumDistanzraum, dem Dort, unterscheiden kann. Die Ausdehnung des Nahraums ist dabei