Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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der generalisierten Implikaturen in Levinson (2000) bis zu einem gewissen Grad vorweg.

      Die Theorie der skalaren Implikaturen eröffnet unter anderem eine Lösung für ein Problem, das sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung der koordinierenden Konjunktion oderoderinklusivesoderexklusives im Deutschen stellt. Das Pendant zu oder in der Aussagenlogik, das formale Symbol ˅, verknüpft zwei Aussagen p und q zu einer komplexen Aussage (p ˅ q), die genau dann wahr ist, wenn mindestens eine der beiden Teilaussagen p und q wahr ist. In Form einer Wahrheitswerttabelle lässt sich diese inklusive Zur Arbeitsteilung zwischen Semantik und PragmatikSemantik des Junktors ˅ wie folgt darstellen: Die beiden Teilaussagen p und q können jeweils entweder den Wahrheitswert 1 (wahr) oder 0 (falsch) annehmen. Damit ergeben sich insgesamt 2 × 2 = 4 Möglichkeiten: Entweder sind beide wahr oder beide falsch oder genau eine der beiden wahr. Jede Zeile in der Tabelle repräsentiert eine dieser Möglichkeiten (vergleiche hierzu die Einträge in den beiden linken Spalten zu p und q). In der Spalte (p ˅ q) ist dann jeweils angegeben, ob der Satz (p ˅ q) unter dieser Wahrheitswertverteilung wahr ist oder falsch:

      Die Frage, die sich nun stellt, ist: Ist die Bedeutungsbeschreibung des Junktors ˅ in der Aussagenlogik auch eine geeignete Bedeutungsbeschreibung für die Konjunktion oder im Deutschen? Auf den ersten Blick möchte man sagen: Nein! Denn oder im Deutschen schließt im Allgemeinen aus, dass beide Aussagen gleichzeitig zutreffen. Wenn ich sage: Ich wasche dir das Auto oder ich mähe den Rasen, dann schließe ich damit offenbar die Möglichkeit aus, dass ich beides mache. Betrachtet man sich nun aber auch die Bedeutungsbeschreibung des Pendants ˄ zu und in der Aussagenlogik, dann sieht man schnell, dass ˅ und ˄ eine Skala <˄, ˅> bilden: Wenn die Aussage (p ˄ q) wahr ist, dann ist immer auch (p ˅ q) wahr, aber nicht umgekehrt. Nach der Theorie der skalaren Implikaturen löst dann aber eine Äußerung von (p ˅ q) die Annahme aus, dass (p ˄ q) nicht zutrifft. Beide Aussagen zusammen, also die komplexe Aussage ((p ˅ q) ˄ ¬ (p ˄ q)), sind aber inhaltlich äquivalent zu einer exklusiven (also ausschließenden) Interpretation von ˅. Übernimmt man also die Bedeutungsbeschreibungen von ˄ und ˅ für die Konjunktionen und und oder, dann lässt sich die exklusive Interpretation von oder auf der Basis einer inklusiven Semantik von oder in Interaktion mit pragmatischen Prinzipien herleiten.

      Beschließen wir den Abschnitt zu Konversationsimplikaturen mit einem weiteren Beispiel. Nehmen wir an, Sie stehen mit Ihrem Kollegen vor Ihrer Bürotür, haben einen Kaffee in der Hand und suchen nach Ihrem Schlüssel. Sie finden ihn aber nicht. Darauf hin sagen Sie zu Ihrem Kollegen: Kannst du mir die Türe öffnen? Genau genommen ist diese Frage eine Frage nach der Fähigkeit [50]oder Möglichkeit des Kollegen, die Türe zu öffnen. Dass dem tatsächlich so ist, zeigt die Tatsache, dass der Kollege die Frage im Prinzip mit ja beantworten kann (z. B., weil alle Bürotüren mit demselben Gruppenschlüssel geöffnet werden). Die Frage nach der Möglichkeit ist aber natürlich nicht der kommunikative Sinn der Äußerung. Was der Sprecher primär möchte, ist, dass der Kollege einfach die Bürotür öffnet. Mit anderen Worten: Wir verstehen die Frage nach der Möglichkeit, etwas zu tun, als die Aufforderung, es zu tun. Dieses Phänomen wird in der Literatur unter dem Indirekte SprechakteBegriff der indirekten SprechakteSprechaktindirekter diskutiert.

      3.5 Sprechakte

      Was ist ein Sprechakt? Bis jetzt haben wir uns darauf konzentriert, dass ein zentraler Aspekt sprachlicher Kommunikation darin besteht, Informationen zu kommunizieren (über sprachliche Kodierung und nicht-monotone Inferenz). Das ist aber nicht die ganze Geschichte. Es ist zwar richtig, dass mit einer Äußerung in der Regel (auf irgendeine Art und Weise) Information kommuniziert wird, gleichzeitig können sprachliche Äußerungen aber immer auch als eine Form der HandlungHandlungAkt aufgefasst werden: Wenn ich den Satz Gib mir doch bitte mal das Buch da rüber! äußere, dann fordere ich den Adressaten mit dieser Äußerung auf, mir das fragliche Buch zu geben. Und wenn der Adressat darauf mit Welches Buch meinst du denn? reagiert, dann werde ich diese Äußerung als eine Frage verstehen, die ich zum Beispiel mit Ich meine »Homers letzter Satz« von Simon Singh beantworte. Die Handlung, die mit einer sprachlichen Äußerung verbunden wird, wird mit Austin (1962) Was ist ein Sprechakt?als Sprechakt bezeichnet.

      Mit sprachlichen Äußerungen wird (typischerweise) auch eine sprachliche Handlung vollzogen. Diese Handlung wird seit Austin (1962) als SprechaktSprechakt bezeichnet.

      Tatsächlich unterscheidet Austin (1962) bei sprachlichen Äußerungen drei Arten von Lokutionärer, illokutionärer und perlokutionärer AktHandlungen: den lokutionärenAktlokutionärer, den illokutionärenAktillokutionärer und den perlokutionärenAktperlokutionärer Akt. Der lokutionäre Akt fällt im Wesentlichen mit dem eigentlichen Äußerungsakt (also dem phonetischen Ereignis, inklusive der auf diese Weise kodierten syntaktischen und semantischen Information) zusammen. Der illokutionäre Akt meint dagegen genau den Handlungsaspekt, den wir [51]gerade thematisiert und dann als Sprechakt bezeichnet haben. Entsprechend spricht man häufig auch von der IllokutionIllokution einer sprachlichen Äußerung. Mit dem perlokutionären Akt einer sprachlichen Äußerung ist schließlich der intendierte Effekt beim Adressaten gemeint (also z. B., dass er mir das Buch gibt, im Fall einer Aufforderung; dass er meine Frage beantwortet, im Fall einer Frage; oder dass er mir glaubt, was ich gesagt habe, im Fall einer Behauptung). Im Zentrum der Sprechakttheorie steht naturgemäß der illokutionäre Akt und wir werden uns im Folgenden auch auf diesen Aspekt der sprachlichen Handlung beschränken.

      Eine naheliegende Frage ist zunächst, ob mit jeder sprachlichen Mindestens ein Sprechakt?Äußerung auch immer eine sprachliche Handlung im Sinne eines Sprechakts (Illokution) verbunden ist. Im Allgemeinen wird das der Fall sein, es gibt aber auch Fälle, für die das zumindest nicht völlig offensichtlich ist. Ein solcher Fall ist die Diskurspartikel »Hm«. Die Partikel »Hm« kann von Zuhörern in einem Diskurs unter anderem als ein Signal eingesetzt werden, dass sie noch bei der Sache sind, dass sie noch zuhören. Diese Verwendung von »Hm« ist zwar genau genommen ebenfalls eine sprachliche Handlung, wird aber wohl besser als eine spezifische Funktion im Diskurs beschrieben.

      Beschränken wir uns also auf die klar(er)en Fälle wie Fragen, Behauptungen, Versprechen oder Aufforderungen. Für diese Fälle liegt es wiederum nahe zu fragen, ob entsprechende Äußerungen immer mit genau einem Höchstens ein Sprechakt?Sprechakt verbunden sind oder ob gleichzeitig mehrere Handlungen durchgeführt werden können. Ein solcher Fall scheint nun tatsächlich mit den bereits erwähnten indirekten Sprechakten vorzuliegen: Wenn ich meinen Kollegen frage, ob er mir die Tür öffnen kann, dann ist und bleibt das letztlich eine Frage (der Kollege kann wie gesagt immer mit den Antwortpartikeln ja oder nein reagieren). Diese sprachliche Handlung ist in dieser Situation aber offenbar nicht die primäre: In erster Linie ist die Äußerung als eine Aufforderung zu verstehen, die Tür zu öffnen. Daher spricht man hier bei der Frage auch von der sekundären IllokutionIllokutionsekundäre und bei der Aufforderung von der primären IllokutionIllokutionprimäre.

      Zwischen diesen beiden Illokutionen besteht nun ein wichtiger Zusammenhang: Die Aufforderung, die Türe zu öffnen, erfolgt offenbar auf der Grundlage der Frage, ob der Adressat dem Sprecher die Tür öffnen kann. Hier wird jetzt die Verbindung zu Implikaturen deutlich: Die Indirekter Sprechakt und KonversationsimplikaturÄußerung wird nur deswegen als Aufforderung verstanden, die Tür zu öffnen, da Sprecher und Adressat wissen (und sich dieses Wissen gegenseitig zuschreiben), dass der Adressat die Türe öffnen kann. Damit kann die Beantwortung der Frage aber nicht das primäre kommunikative Ziel des Sprechers sein, die Äußerung muss auf etwas anderes abzielen. In diesem Kontext liegt es dann nahe zu schließen, [52]dass der Sprecher möchte, dass der Adressat ihm die Türe öffnet. Damit muss die Äußerung aber als eine Form der Aufforderung