Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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einer partikularen Konversationsimplikatur. Und der sekundäre Sprechakt? Muss man ihn ebenfalls als eine (partikulare) Konversationsimplikatur auffassen oder besteht hier eine direktere (konventionelle) Beziehung zwischen dem (syntaktischen) Zum Verhältnis von Satztyp und SprechaktSatztyp einerseits und dem (pragmatischen) Sprechakt andererseits? Mit anderen Worten: Verbinden wir in systematischer Weise den Satztyp Interrogativsatz mit dem Sprechakt der Frage, den Satztyp Imperativsatz mit dem Sprechakt der Aufforderung und den Satztyp Deklarativsatz mit dem Sprechakt der Aussage bzw. Behauptung? Auf den ersten Blick scheint es so. Auf den zweiten Blick muss man aber feststellen, dass die Beziehung zwischen Satztyp und Sprechakt sehr vielschichtig ist. So kann man gerade und vor allem mit Deklarativsätzen sehr unterschiedliche Sprachhandlungen vollziehen: Mit ich komme nächstes Mal pünktlich kann ich etwas versprechen, mit du öffnest mir jetzt sofort die Tür kann ich eine nachdrückliche Aufforderung aussprechen und mit ich bin gerade noch rechtzeitig angekommen kann ich einen Sachverhalt beschreiben und gleichzeitig meine Erleichterung darüber ausdrücken. Umgekehrt kann ein und dieselbe Sprachhandlung über verschiedene Satztypen realisiert werden, wie man gerade am Beispiel der nachdrücklichen Aufforderung gesehen hat (öffne mir jetzt sofort die Tür vs. du öffnest mir jetzt sofort die Tür). Dieses Verhältnis, das auch unter dem Begriff des SatzmodusSatzmodus in der Literatur diskutiert wird (vgl. z. B. Altmann 1993, Brandt u. a. 1992), kann hier aus Platzgründen leider nicht eingehender diskutiert werden (man vgl. hierzu aber z. B. das Kapitel zu Satzmodus in Pafel & Reich 2016).

      Gleichzeitig hat obige Diskussion aber auch gezeigt, wie viele und wie heterogene Sprachhandlungen mit sprachlichen Äußerungen durchgeführt werden können. Daher scheint es unabhängig von der angedeuteten Beziehung zur Syntax sinnvoll, etwas Ordnung in das Chaos der Sprechakte zu bringen. Die Frage ist also, ob sich Kriterien finden lassen, nach denen verschiedene Sprechakte zu einigen wenigen (natürlichen) (Natürliche) Klassen von SprechaktenKlassen zusammengefasst werden können. Obwohl bereits mit Austin (1962) eine Taxonomie von Sprechakten vorliegt, muss man den in Searle (1979) entwickelten Alternativvorschlag sicherlich als den einflussreicheren bezeichnen.

      Searle (1979) diskutiert eine ganze Reihe möglicher Kriterien, gründet seine Hauptklassen aber im Wesentlichen auf drei: den so genannten Illokutionärer Witzillokutionären Witzillokutionärer Witz eines Sprechakts, seine Wort-Welt-AusrichtungWort-Welt-Ausrichtung und die SprechereinstellungSprechereinstellung. Da die Sprechereinstellung letztlich eng mit dem [53]illokutionären Witz zusammenhängt, wird sie hier vernachlässigt. Mit dem Begriff des illokutionären Witzes bezeichnet Searle das, als was ein Sprechakt in letzter Konsequenz aufzufassen ist: Wenn ich zum Beispiel etwas behaupte, dann ist das als eine Festlegung auf das Gesagte aufzufassen. Und wenn ich etwas verspreche, dann ist das eine Verpflichtung, es auch zu tun.

      In Analogie zu den Wahrheitsbedingungen, denen der propositionale Gehalt eines Sprechaktes unterliegt (Näheres hierzu im Kapitel zur Semantik), formuliert Searle (1969) auch GelingensbedingungenBedingungen für das Gelingen eines Sprechaktes. Aus Platzgründen können wir auf diese vier Bedingungen nicht im Einzelnen eingehen, es sei aber doch zumindest angemerkt, dass das Kriterium des illokutionären Witzes bei der Klassifikation von Sprechakten mit einer dieser Gelingensbedingungen, der wesentlichen Bedingung (das Tun von X zählt als Y), zusammenfällt. Ähnliches gilt für die Sprechereinstellung, die weitgehend der Aufrichtigkeitsbedingung (welche Sprecherintention mit einem Sprechakt verbunden ist) entspricht. Die Klassifikation von Sprechakten knüpft damit in natürlicher Weise an deren Charakterisierung an. Allein das Kriterium der Wort-Welt-Ausrichtung findet dort kein Pendant.

      Das KriteriumWort-Welt-Ausrichtung der Wort-Welt-Ausrichtung bezieht sich im Gegensatz zum illokutionären Witz nicht primär auf die Natur des Sprechakts, sondern auf dessen propositionalen Gehalt (also im Wesentlichen den Teil der Äußerungsbedeutung, der einen Sachverhaltsbezug aufweist): Ist der ausgedrückte Sachverhalt wie in dem Satz 2018 wurde Frankreich Weltmeister grundsätzlich unabhängig von der Äußerung, dann hat die Äußerung nur rein beschreibenden Charakter und in diesem Sinne richtet sich das Wort nach der Welt. Man spricht dann von einer Wort-nach-Welt-Ausrichtung und symbolisiert dies mit einem nach unten gerichteten Pfeil ↓. Hängt der ausgedrückte Sachverhalt aber wie bei dem Satz Kauf doch bitte noch einen Ring Lyoner in dem Sinne von der Äußerung ab, dass die Äußerung den Auslöser für eine potentielle spätere Realisierung darstellt, dann richtet sich hier gewissermaßen die Welt nach dem Wort. Man spricht dann von einer Welt-nach-Wort-Ausrichtung und symbolisiert dies mit einem nach oben gerichteten Pfeil ↑. Und kommt der Sachverhalt wie bei Ernennungen (Hiermit ernenne ich Sie zur Professorin!) oder Schiedsrichterentscheidungen (Tor!) im Wesentlichen allein aufgrund und gleichzeitig mit der Äußerung in die Welt (Saying makes it so!), dann liegt anders als in den vorigen Fällen keine Asymmetrie vor und die Wort-Welt-Beziehung wird entsprechend durch einen Doppelpfeil ↕ dargestellt. Für Äußerungen wie Herzlichen Glückwunsch! oder Ohje!, die eher (oder rein) [54]expressiven Charakter haben, also primär einen emotionalen Zustand des Sprechers kommunizieren, wird von Searle keine (relevante) Wort-Welt-Beziehung angenommen (Ø).

      Die zentrale Bedeutung der beiden Kriterien illokutionärer Witz und Wort-Welt-Ausrichtung für die Klassifikation von Sprechakten wird vor allem dann verständlich, wenn man weiß, dass Searle (1969) sprachlichen Äußerungen generell eine Struktur F(p) zuschreibt, in derIllokutionäre Kraft und propositionaler Gehalt eine illokutionäre Kraftillokutionäre Kraft F (Force) auf einem propositionalen GehaltGehaltpropositionaler p operiert. Mit diesen Kriterien (und weiteren Überlegungen) kommt Searle (1979) zu einer Taxonomie, die fünf verschiedene Klassen unterscheidet (vgl. hierzu Abb. 3.3): Assertive, Direktive, Kommissive, Expressive und Deklarative.

      Abb. 3.3: Die Searle’sche Klassifikation von Sprechakten

      Das klassische Beispiel für Assertive Sprechakteeinen assertiven SprechaktSprechaktassertiver ist die bereits vielfach erwähnte Behauptung: Wenn ich sage, dass Frankreich 2018 Weltmeister geworden ist, dann behaupte ich damit einen unabhängigen Sachverhalt (↓) und kommuniziere gleichzeitig, dass ich die Aussage für wahr halte. (Hier sollte sich der eine oder die andere an die Grice’sche Maxime der Qualität erinnert fühlen.) In diese Klasse fallen aber auch hypothetische Annahmen der Art wenn die Erde ein Scheibe wäre, dann würde man irgendwann runterfallen. Die Klasse der assertiven Sprechakte ist vergleichsweise klar umrissen und insgesamt wenig kontrovers.

      Das kann von den beiden nächsten Direktive und kommissive SprechakteKlassen, den DirektivenSprechaktdirektiver und den KommissivenSprechaktkommissiver, nicht unbedingt behauptet werden. Der typische Fall eines direktiven Sprechakts ist die schon erwähnte Aufforderung, bei der der Sprecher den Adressaten auf eine (über die Äußerung präzisierte) zukünftige Handlung verpflichten möchte. Bei kommissiven Sprechakten wie dem Versprechen ist es dagegen der Sprecher selbst, der sich auf eine zukünftige Handlung verpflichtet. Da in beiden Fällen die Äußerung der Auslöser für die spätere Handlung ist, ist die Wort-Welt-Ausrichtung in beiden Fällen gleich: [55]Welt-nach-Wort (↑). Damit ist die Searle’sche Taxonomie aber keine Kreuzklassifikation mehr, in der jede Merkmalsausprägung nur genau eine Klasse charakterisiert.

      In die Klasse der Direktive fallen nach Searle darüber hinaus auch Problemfälle und eine alternative KlassifikationFragen, da diese als eine Aufforderung an den Adressaten aufgefasst werden können, eine Antwort zu geben. In Brandt et al. (1992) wird allerdings kritisch angemerkt, dass bei Fragen der propositionale Gehalt grundsätzlich unabhängig von der Äußerung ist: Wenn ich frage, wer 2018 Weltmeister geworden ist, dann steht das bereits vor meiner Äußerung fest. Daraus sollte man aber schließen können, dass Fragen wie Assertive eine Wort-nach-Welt-Ausrichtung (↓) haben, die offenbar mit der Welt-nach-Wort-Ausrichtung (↑) von Direktiven kollidiert. Daher fassen Brandt et al. (1992) Assertive und Fragehandlungen in einer Klasse der DarstellungshandlungenHandlungDarstellungshandlung