Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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kaufen und feststellen, dass keine Bauanleitung im Paket ist.

      Eine ganz wichtige Regel zum Zusammenbau ist das so genannte Kompositionalitätsprinzip, Kompositionalitätsprinzipauch Fregeprinzip genannt nach dem Mathematiker, der es zuerst beschrieben hat. Es besagt, dass die Bedeutung einer komplexen (also: aus mehreren Teilen zusammengesetzten) sprachlichen Äußerung sich einerseits aus der Summe der Einzelbedeutungen ergibt, andererseits aus einem Bedeutungsbeitrag, der sich durch die Art der Kombination ergibt. Auf dieses Prinzip wird aus semantischer Sicht in Abschnitt 7.3 eingegangen; für den Syntaktiker ist der letzte Teil der Definition interessant, die Art der Kombination. Wenn ich einen Satz wie … dass das kratzbürstige Mädchen den Klavierspieler liebt äußere, hat er eine bestimmte Bedeutung. Diese Bedeutung erschließt sich aber nicht nur aus den Einzelbedeutungen der Wörter. Wenn ich eine Kleinigkeit ändere, nämlich den Fall des Artikels vor Klavierspieler, ergibt sich eine völlig andere Bedeutung: … dass das kratzbürstige Mädchen der Klavierspieler liebt. Es ergibt sich nicht nur eine andere Bedeutung, sondern auch das Gefühl, dass der Satz komisch klingt; besser würde er klingen, wenn ich ihn umstellte: … dass der Klavierspieler das kratzbürstige Mädchen liebt. Auf jeden Fall: Das Wortmaterial ist identisch. Der Bedeutungsunterschied kommt durch die Art der Zusammensetzung zustande, nämlich dadurch, dass ich im ersten Fall die Wortgruppe das kratzbürstige Mädchen als Subjekt und die Wortgruppe den Klavierspieler als Objekt mit dem Verb verbunden habe, im zweiten genau umgekehrt: Hier ist das kratzbürstige Mädchen das Objekt, der Klavierspieler das Subjekt.

      Zurück zur Bauanleitung. Tatsächlich ist die Bauanleitung, die das Kind beim Spracherwerb lernen muss und die wir als Verwender der Sprache tagtäglich mehrere hundert Male anwenden, nicht ganz so einfach, das Kompositionalitätsprinzip ist nur ein Bestandteil davon. Da diese Bauanleitung jedoch nirgendwo notiert ist, sondern nur in unseren Köpfen existiert, ist es für den Sprachforscher nicht leicht, an diese Anleitung heranzukommen. Deshalb benutzen GrammatiktheorienSprachforscher Theorien zur Grammatik. Es gibt einige Theorien auf dem Markt, die wir hier nicht alle anführen wollen; wir werden uns auf einige beschränken. Eine Theorie (die Valenzgrammatik)Valenzgrammatik geht beispielsweise davon aus, dass das Verb die absolute Keimzelle des Satzes ist und alles bestimmt, was sonst in dem Satz passiert. Eine andere Theorie (die Generative Grammatik)Generative Grammatik geht davon aus, dass es ein paar wenige Bildungsregeln gibt, die alle Wortgruppen und Sätze erzeugen können (die generative Grammatik ist sehr verbreitet, weshalb wir es für hilfreich halten, in diesem Kapitel in diese Theorie einzuführen). Wieder eine andere Theorie geht davon aus, dass Satztypen und Phrasentypen ganz ähnlich wie Wörter als Ganzes im Lexikon gespeichert sind, genauer gesagt, als Form-Funktionspaare, und bei Bedarf hervorgeholt werden (Konstruktionsgrammatik)Konstruktionsgrammatik. Und wieder eine andere Theorie geht davon aus, dass die Funktion von Äußerungen das wichtigste ist und die Form der Äußerungen sich aus der Funktion direkt ergibt (funktionale Grammatik)funktionale Grammatik. Das sind nur ein paar relativ prominente Vertreter von Theorien.

      Es kommt manchmal – leider viel zu häufig – vor, dass sich die Vertreter verschiedener Theorien mit fast zelotischem Eifer bekämpfen, als ob es sich um (Ersatz-)Religionen handelte. Hier ist tatsächlich eine gewisse Gelassenheit wesentlich zielführender. Es gibt sicher nicht die Theorie, die alles restfrei erklärt und darum allen anderen überlegen ist. Theorien sind an sich nichts anderes als Versuche, die mentalen Prozesse, die die Sprache erzeugen, irgendwie modellhaft sinnfällig zu machen. Manche haben ihre Stärken in einem Aspekt, andere in einem anderen Aspekt, aber solange sie in sich logisch ist, ist keine Theorie von vorneherein ›besser‹ oder ›schlechter‹ als die andere.

      [67]Bevor wir aber eine Theorie entwickeln können, benötigen wir zuerst einmal Daten. Diese Daten stammen in der Syntax in der Regel entweder aus der Beobachtung tatsächlich produzierter sprachlicher Äußerungen oder aus der Beurteilung von Äußerungen, die zu exakt dem Zweck der Beurteilung ›gebastelt‹ wurden. Je nachdem, ob Sprecher der zu untersuchenden Sprache – z. B. des Deutschen – bestimmte Sätze als akzeptabel oder nicht akzeptabel einstufen, lässt sich einiges über den Aufbau der Sprache sagen.

      EinGrammatikalität Beispiel: Betrachten wir den Satz in (4.2 a). Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Satz als völlig akzeptabel beurteilen: Sie können sich vorstellen, einen Satz dieser Form schon einmal gehört zu haben, können sich vielleicht auch vorstellen, so einen Satz in einem passenden Zusammenhang selbst zu äußern. Ein solcher GrammatikalitätSatz ist grammatisch. Grammatisch kann man umschreiben mit: Die Regeln der Sprache sind in der Lage, diesen Satz hervorzubringen.

      Wie ist es dagegen mit Satz (4.2 b)? Ich könnte mir vorstellen, dass Sie diesen Satz schlichtweg falsch finden. Sowas würden Sie nie sagen, und Sie könnten sich auch nicht vorstellen, dass Sie so einen Satz jemals gehört haben. Solch ein Satz ist ungrammatisch, das heißt: Die grammatischen Regeln der Sprache sind nicht in der Lage, diesen Satz hervorzubringen. Wir markieren solche ungrammatischen Sätze in linguistischen Veröffentlichungen in der Regel mit einem vorgesetzten Asterisk, einem Sternchen.

      Was ich hier gemacht habe, ist tatsächlich recht einfach: Ich habe bei jeder Wortgruppe die Reihenfolge der Wörter innerhalb der Wortgruppe [68]umgedreht, also aus ›nach Köln‹ ›Köln nach‹ etc. gemacht. Man sieht: Auch das Falsche kann System haben. Tatsächlich wären diese Abfolgen im Deutschen zwar undenkbar, es ist aber theoretisch möglich, dass es andere Sprachen gibt, die solche Abfolgen ganz grammatisch finden und die bei uns gängigen als ungrammatisch beurteilen. Im Japanischen z. B. wäre die Stellung des richtungsanzeigenden Elements nach dem Bezugsnomen die einzig mögliche Reihenfolge.

      Ungrammatikalität muss nicht einmal mit dem Verständnis zusammenhängen. Vielleicht wären Sie sogar in der Lage, aus (4.2 b) den intendierten Sinn herauszulesen. Die Wörter kennen Sie alle, es sind genau die gleichen Wörter wie in (4.2 a). Umgekehrt würden Sie einen Satz wie (4.2 c) vermutlich niemals akzeptieren. Was soll das denn heißen? Der Satz ist in sich voller Widersprüche, die Bedeutungen passen nicht zueinander. Die Unverständlichkeit und die daraus AkzeptabilitätGrammatikalität, Akzeptabilität und ›Stil‹resultierende Inakzeptabilität hat aber nichts mit der GrammatikalitätGrammatikalität zu tun: Rein syntaktisch betrachtet, ist an dem Satz nichts auszusetzen: das Verb schlafen hat ein Subjekt, wie es sich gehört, es wird durch ein Adverbial modifiziert, und dass Substantive durch Adjektive näher bestimmt werden, ist ja auch ganz normal. Nur die Semantik ist eben unsinnig. Solche Sätze würden deshalb nie als ungrammatisch markiert werden. Der Satz stammt übrigens aus einer frühen Publikation von Noam Chomsky (Chomsky 1957), einem der Väter der generativen Grammatiktheorie, der genau diesen Satz (auf Englisch, natürlich) zur Illustration des hier besprochenen Befundes verwendete.

      Wie ist es nun mit einem Satz wie in (4.2 d)? Vielleicht wurde Ihnen beigebracht, dieser Satz sei falsch: Wegen hat mit Genitiv zu stehen, nicht mit Dativ. Tatsächlich aber ist dieser Satz nach unserer Definition ein völlig grammatischer Satz des Deutschen, denn die Beobachtung dessen, was in der Sprache tatsächlich vorkommt, lehrt uns, dass die Konstruktion der Präposition wegen mit dem Dativ sehr häufig benutzt wird. Wie die Beobachtung zeigt, ist der Kasusgebrauch hier variabel: Grundsätzlich lässt das System beide Kasus zu. Die Variation ist aber nicht völlig frei, sondern hängt in diesem Fall vom Register Registerab, also der Stilebene, wenn Sie so wollen: Im Schreiben und in eher formalen Kontexten wird eher der Genitiv verwendet, in der alltäglichen Sprache der Dativ. Konservativ eingestellte Sprachbenutzer bemerken, dass es vor mehreren hundert Jahren diese Variation nicht gab und leiten daraus ab, dass die ›neuere‹ Variante falsch sein muss. Dass dieser Schluss unlogisch (und damit die Behauptung unsinnig) ist, liegt unter anderem daran, dass Variation eine ganz normale Sache in der Sprache ist, ebenso wie jede Sprache ständig Veränderungen unterworfen ist – wir werden im Kapitel zum Sprachwandel [69](Kapitel 12) darauf zurückkommen. Die Prämisse ist also falsch: