Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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eine grammatische Funktion (wie Subjekt, Objekt, Adverbial) trägt. Eine unabhängige Konstituente entspricht also ganz grob dem, was man traditionell als Satzglied Satzgliedbezeichnet. Welche unabhängige Konstituente des Satzes nun im Vorfeld steht, wird von der Grammatik nicht festgelegt – es kann ein Adverbial sein wie in (4.4 a) oder (4.3 a), es kann das Subjekt sein wie in (4.4 b) oder (4.3 b), es könnte ein Objekt sein, wie in (4.4 c).

      Man sieht, dass sich die Bedeutung der Sätze in (4.4) nicht wirklich ändert, eventuelle Unterschiede zwischen den verschiedenen Versionen liegen eher in der Gewichtung. Festgelegt wird die Vorfeldfüllung durch eine eher pragmatische Größe, die Informationsstruktur, Informationsstrukturauf die wir später in diesem Abschnitt näher eingehen werden (vgl. Speyer 2008). Auf jeden Fall ist es wichtig festzuhalten, dass es im Deutschen nicht so ist, dass das Subjekt grundsätzlich vor dem Verb steht. Die ›logische‹ Satzstruktur, wie sie in Abschnitt 7.3 eingeführt wird und nach der ein Satz aus (logischem) SubjektSubjekt und PrädikatPrädikat (= VerbalphraseVerbalphrase) besteht, ist also im Deutschen oftmals an der Oberfläche nicht sichtbar.

      Das NachfeldNachfeld Das Nachfeldwird auch selten von mehr als einer Konstituente besetzt – wenn überhaupt. Als Faustregel für die Nachfeldfüllung gilt, je komplexer eine Konstituente ist, desto eher kann sie ins Nachfeld (für eine genauere Betrachtung vgl. z. B. Vinckel 2006). Klassiker für die Nachfeldfüllung sind GliedsatzGliedsätze, wie der angedeutete dass-Satz in (4.3 b), die als Satzglieder bzw. Konstituenten ihres jeweils übergeordneten Satzes gelten und die aufgrund ihrer Komplexität gut ins Nachfeld passen. Extrem nicht-komplexe Elemente [73]wie z. B. Pronomina finden wir dagegen nie im Nachfeld (*Kannst du mir rüberreichen es?). Für die Besetzung des Nachfeldes spielt, neben der Komplexität der Konstituente, ebenfalls die Informationsstruktur eine Rolle; unabhängig davon finden sich Objekte deutlich seltener im Nachfeld, Subjekte so gut wie nie.

      Bleibt noch Das Mittelfelddas MittelfeldMittelfeld. Für das Mittelfeld gelten keine Beschränkungen, in ihm kann so ziemlich alles stehen, und es kann auch beliebig viel Material dort stehen. WortstellungunmarkierteTrotzdem gibt es einige Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen, denen die Abfolge im Mittelfeld unterworfen ist. Auch gibt es einige Elemente, bzw. Elementklassen, die innerhalb des Mittelfelds relativ stellungsfest sind: Am linken Rand des Mittelfelds ballen sich einige unbetonte bzw. schwachbetonte Elemente zusammen, nämlich Personalpronomina und Modalpartikeln. Ein Beispiel wäre Gestern hat sie ihm ja das Buch nach vielen Diskussionen endlich gegeben. Diese Position am linken Rand des Mittelfelds wird oft als Wackernagelposition Wackernagelpositionbezeichnet, nach dem Indogermanisten, der sie zuerst für eine Reihe indoeuropäischer Sprachen beschrieben hat. Eine Umstellung der Pronomina nach weiter hinten, wie in Gestern hat das Buch nach vielen Diskussionen sie ihm ja endlich gegeben, würde die Akzeptabilität stark beeinträchtigen, für manche vielleicht sogar zur Ungrammatikalität führen. Ebenso gibt es Elemente, die auf den rechten Rand des Mittelfelds abonniert sind, z. B. die Negationspartikel (Sie hat ihm das Buch nach diesen Diskussionen schließlich nicht gegeben), nicht-verbale Bestandteile von Funktionsverbgefügen (Uller kann seinen Freunden manchmal ganz schön auf den Wecker gehen; unter FunktionsverbgefügeFunktionsverbgefügen versteht man feste Fügungen von relativ blassen Verben und einer sinntragenden Ergänzung) und bestimmte Gruppen von Adverbialen, z. B. Richtungsadverbiale (Morgen wird Gwendolyn mit ihrer ganzen Familie endlich nach Trier fahren).

      WortstellungunmarkierteFür andere Elemente im Mittelfeld gibt es, wie gesagt, eher Tendenzen als feste Regeln. Wir betrachten hier Unmarkierte Abfolge im Mittelfelddie unmarkierte Wortstellung (vgl. Höhle 1982), d. h. die Wortstellung, die ein Satz in möglichst neutralen Kontexten hat, ohne dass ein Element besonders hervorgehoben ist. Wenn ein Satz z. B. auf eine Frage wie ›Was ist passiert?‹ als Antwort gegeben wird, wird in ihm kein Wort besonders hervorgehoben, da alle Stücke der Information gleichermaßen ›neu‹ und interessant sind (das nennt manFokusweiter weiten Fokus). Für diese unmarkierte Abfolge gilt, dass sie bis zu einem gewissen Grad von Satzgliedfunktionen abhängig ist (Subjekte stehen eher vor Objekten, das Dativobjekt steht eher vor dem Akkusativobjekt) oder von der Form der Satzglieder (nominale Satzglieder stehen vor präpositionalen). Es gibt aber sehr viele Faktoren, die dem entgegenwirken (vgl. Lenerz 1977 und die Zusammenschau in [74]Wöllstein-Leisten et al. 1997). Wenn man z. B. ein definites Akkusativobjekt und ein indefinites Dativobjekt hat, ist die Abfolge Akkusativ vor Dativ auf einmal relativ unmarkiert (Gestern haben wir das Buch einem Studierenden verkauft). Definitheit Definitheitspielt also eine Rolle, aber auch Belebtheit Belebtheit(Satzglieder, die einen Menschen oder ein Tier bezeichnen, stehen vor Satzgliedern, die etwas Unbelebtes bezeichnen), oder – mal wieder – die Informationsstruktur.

      InformationsstrukturInformationsstruktur Informationsstrukturist ein Sammelbegriff für verschiedene Eigenschaften, die ein sprachlicher Ausdruck haben kann in Beziehung auf die Information, die er transportiert. Genauer gesagt, geht es darum, inwiefern ein sprachlicher Ausdruck zu dem gemeinsamen Wissensstand, den alle Gesprächspartner zu einem bestimmten Zeitpunkt des Gespräches oder Diskurses haben, beiträgt (diesen gemeinsamen Wissensstand nennt man Common Ground, vgl. Krifka 2007). Information kann bereits bekannt oder neu sein. Information kann besonders herausgehoben – imFokus Fokus – sein, oder eher ›Hintergrundinformation‹ darstellen. Ein Ausdruck kann dasjenige angeben, worum es in dem Satz oder Textabschnitt geht Thema-Rhema-GliederungTopik-Kommentar-Gliederung(Topik oder Thema), Topik-Kommentar-Gliederungandere Ausdrücke können das angeben, was über diese Sache ausgesagt wird (Kommentar oder Rhema). Damit die Gesprächspartner merken, was für einen informationellen Status bestimmte Elemente haben, wenden viele Sprachen verschiedene Mittel an. Im Deutschen wird z. B. an der Betonung manipuliert und die Wortstellung entsprechend angepasst: Bekannte Information pflegt vor neuer zu stehen, und das Topik pflegt so weit vorne im Mittelfeld wie möglich zu stehen – wenn es nicht im Vorfeld steht.

      AußenfeldlinkesDas wären also die zentralen Felder. Aber im totalen Die AußenfelderAußenbereich kann sich auch noch etwas abspielen. In einem Satz wie Und den Haifisch, den können wir mal zum Zahnarzt schicken sieht es so aus, als wäre deutlich mehr als eine Konstituente vor der Linken Satzklammer. Tatsächlich ist es nur eine – den. Den Haifisch ist ein mit dem Pronomen im Vorfeld koreferenter, also sich auf die gleiche Sache beziehender, Ausdruck. Solche Ausdrücke nennt man Linksversetzung. LinksversetzungSie haben immer eine ganz spezielle Satzmelodie, und sind eigentlich für die Grammatikalität unnötig – im eigentlichen Satz erfüllt ja schon das Pronomen die Aufgabe, auf das Objekt (in diesem Fall) zu referieren. Daran ersieht man, dass dieses Element eigentlich außerhalb des Satzes steht. Und und steht unanfechtbar an der linken Spitze des – erweiterten – Satzes. Seine Aufgabe ist es, den unabhängigen Satz mit dem vorherigen unabhängigen Satz zu verbinden, also eine Koordination Koordinationherzustellen. Es gibt gerade mal eine Handvoll Ausdrücke, die das leisten können. Solche Konnektoren Konnektorkönnten nie alleine das Vorfeld besetzen (*Und hat der Haifisch Zähne), die [75]Vorfeldbesetzung nimmt auf sie keine Rücksicht, was klar darauf hindeutet, dass auch sie außerhalb des eigentlichen Satzes stehen.

      Diese Position vor dem Vorfeld wird oft alsVorvorfeldAußenfeld Vorvorfeld oder linkes Außenfeld zusammengefasst. Man muss sich allerdings klar machen, dass es aus (mindestens) zwei Positionen besteht, die nichts miteinander zu tun haben, aber deren Abfolge klar geregelt ist. Das sind zuerst dieKoordinatorenposition Koordinatorenposition (abgekürzt oft KOORD) und, dahinter, die Position für linksversetztes Material Linksversetzungsposition(Linksversetzungsposition, abgekürzt oft LV-POS). Wir haben den Beispielsatz von oben unter (4.5) vollständig topologisch analysiert.

      Wenn es ein linkes Außenfeld gibt, muss es