Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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werden. Daher sollte man solche didaktisch motivierten Abbildungen nicht überinterpretieren. Wer sich für eher kognitive Aspekte pragmatischer Prozesse interessiert, sei auf die genannten Arbeiten der Relevanztheorie verwiesen oder – wer vor etwas formaleren Zugängen nicht zurückschreckt – auch auf spieltheoretische Ansätze (vgl. z. B. Jäger 2012).

      Empfohlene Literatur

      Ehrich, Veronika: Wann ist jetzt? Anmerkungen zum Adverbialen Zeitlexikon des Deutschen. In: Kognitionswissenschaft 2 (1992). S. 119–135.

      Finkbeiner, Rita: Einführung in die Pragmatik. Darmstadt: WBG, 2015.

      Grice, H. Paul: Logic and Conversation. In: H. P. G.: Studies in the Way of Words. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1991. S. 22–40. [Erstpublikation: 1975.]

      Klein, Wolfgang: Wo ist hier? Präliminarien zu einer Untersuchung der lokalen Deixis. Linguistische Berichte 58 (1978). S. 18–40.

      Levinson, Stephen C.: Pragmatik. Tübingen: Niemeyer, 1990.

      [63]4 Syntax: Gruppiertes

      4.1 Grundbegriffe der Syntax

      Eine gängige Auffassung ist, Was ist Syntax?dass das Wort Syntax irgendwie als ›Satzbau‹ ins Deutsche zu übertragen ist. Das ist nur zum Teil richtig. Wenn wir die Etymologie des Wortes ›SyntaxSyntax‹ ernst nehmen, erhalten wir einen sehr allgemeinen Begriff, der allerdings der Wahrheit ziemlich nahekommt. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen, es ist eine Nominalisierung des Verbs syn-tattein, was ›zusammen-stellen‹ heißt. Es geht in der Syntax also darum, Dinge zusammenzustellen, oder man könnte auch sagen, miteinander zu kombinieren. Und tatsächlich geht es in der Syntax um nichts anderes als darum, aus kleineren sprachlichen Einheiten größere Einheiten zusammenzustellen. Die größten dieser größeren Einheiten sind letztlich Sätze, insofern ist die intuitive Übertragung mit ›Satzbau‹ gar nicht so verkehrt.

      Doch was sind diese kleineren sprachlichen Einheiten? Hier fängt es an, interessant zu werden. Die kleinsten denkbaren für die Syntax relevanten sprachlichen Einheiten der SyntaxEinheiten sind Wörter. Das heißt natürlich nicht, dass Wörter nicht noch weiter zerlegbar sind, es heißt nur, dass die interne Struktur von Wörtern für die Syntax unerheblich ist (mit Ausnahme der Flexionsmerkmale, die syntaktische Bezüge direkt anzeigen). Doch Syntax bedeutet nicht einfach, Wörter irgendwie zusammenzustellen. Manche Wörter haben einen engeren Bezug zueinander als zu anderen Wörtern, so dass sich aus Wörtern zunächst einmal Wortgruppen zusammenstellen lassen. WortgruppeWortgruppe ist hier als theorieneutraler Begriff gewählt, den wir später (vgl. Abschnitt 4.3) durch einen klarer definierten Begriff ersetzen werden. Wortgruppen können sich ihrerseits mit anderen Wortgruppen oder Wörtern zu anderen, größeren Wortgruppen kombinieren, bis irgendwann der Punkt erreicht ist, dass eine Kombination mehrerer Wortgruppen einen Satz ergibt.

      Die Einheiten, die Sätze letztlich bilden, sind tatsächlich eher Wortgruppen als Wörter. Eine Wortgruppe kann nur aus einem Wort bestehen, wie die Wortgruppen in (4.1 a), sie können aber auch länger sein, vielleicht sogar eine innere Gruppierung erkennen lassen, wie in (4.1 b). Zur Veranschaulichung haben wir die Wortgruppen auf der Satzebene (und mögliche Gruppen innerhalb der Gruppen) mit eckigen Klammern markiert.

      Zu beachten ist, dass auf der höchsten, der Satzebene, beide Sätze (4.1 a) und (4.1 b) eigentlich identisch strukturiert sind: Sie bestehen aus einem Subjekt, einem Verb, und einem Objekt, also aus drei Teilen (was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, wissen die meisten Leserinnen und Leser sicher schon, wir erklären sie aber auf alle Fälle in Abschnitt 4.4 genauer). Wenn wir uns die Bedeutung der beiden Sätze anschauen, stellen wir fest, dass sie letztlich auf dasselbe hinauslaufen (vorausgesetzt, dass das Subjekt in beiden Fällen auf dieselbe Person referiert), in einem Fall nur etwas ausführlicher beschrieben wird, um wen und was es geht.

      Beide sprachlichen Äußerungen in (4.1) sind also Sätze. Der Der SatzBegriff SatzSatz ist gar nicht so einfach zu definieren. Es kommt darauf an, aus welchem Blickwinkel man ›den Satz‹ betrachten will. Aus syntaktischer Sicht wird traditionell als ein (vollständiger) Satz ein Gebilde angesehen, das ein finites Verb aufweist, von dem die anderen Bestandteile in einer irgendwie gearteten Weise abhängen. Hier steht also die hierarchische Struktur des Satzes im Vordergrund. In der Pragmatik, die wir schon kennengelernt haben (vgl. Abschnitt 3.5), zeigt sich, dass die gleiche Funktion, die Sätze haben, auch von Äußerungen wahrgenommen werden können, die aus syntaktischer Sicht keine vollständigen Sätze sind, wie Stehenbleiben!, das im Wesentlichen dieselbe Funktion einnimmt wie z. B. Wir fordern, verdammt noch mal, dass Sie sofort stehenbleiben, anderenfalls beginnen wir zu schießen, oder huch!, das dieselbe ›Bedeutung‹ haben kann wie Weil ich gestolpert bin, habe ich mich erschreckt. Im ersten Fall ist eine gewisse Beziehung zwischen der ›Kurzform‹ und der ›Langform‹ zu erkennen, man könnte sogar annehmen, die ›Kurzform‹ ist dadurch entstanden, dass man aus der Langform alle möglichen Wörter und Wortgruppen herausgelöst hat, bis am Schluss nur noch eine Verbform übriggeblieben ist (solche und ähnliche ›Kurzformen‹ nennt man EllipsenEllipse). Im zweiten ist keine Beziehung zu sehen.

      Schauen wir uns noch einmal (4.1 b) an. Wir sehen, dass der Satz aus Wortgruppen aufgebaut ist, die ihrerseits aus Wörtern und Wortgruppen aufgebaut sind. Wir sehen auch, dass ein Bestandteil der dritten Wortgruppe, nämlich die im frühen Hochsommer reif werden, selbst ein Satz ist, der seinerseits aus Wortgruppen und so weiter besteht. Diese Eigenschaft, dass Bauteile ihrerseits aus Bauteilen bestehen, die auf gleiche Weise gebaut sind (oder zu [65]zerlegen sind) wie die größeren Bauteile, und diese sich wieder auf dieselbe Weise in kleinere, gleich gebaute Bauteile zerlegen lassen, nennen Rekursivitätwir Rekursivität.Rekursivität Nahezu alle menschlichen Sprachen haben eine rekursiv aufgebaute Syntax, und selbst Sprecher von Sprachen, von denen behauptet wird, sie verfügten nicht über rekursive Strukturen, wenden Rekursivität beim Erlernen von (rekursiv gebauten) Fremdsprachen problemlos an.

      Solche größeren Einheiten sollten so Kompositionalitätsprinzipzusammengebaut werden, dass nachher jeder versteht, was gemeint ist. Es ist ja nicht so, dass wir im Spracherwerb alle möglichen Sätze auswendig lernen und dann einfach, wenn wir z. B. Satz Nr. 10 687 hören, sagen: »Ach ja, das ist ja Satz 10 687, zu dem habe ich damals die Bedeutung ›Uller mag Himbeeren‹ gelernt.« Was das Kind beim Spracherwerb tatsächlich im engeren Sinne ›lernt‹, sind sprachliche Einheiten, die Lexikoneinträgen zugrundeliegen (vgl. Abschnitt 7.1), also zunächst einmal einzelne Wörter mit ihren Bedeutungen, dazu vielleicht größere Einheiten – idiomatische Ausdrücke idiomatischer Ausdruckoder Phraseologismen Phraseologismus(das sind Gebilde, in denen mehrere Wörter zusammen eine Bedeutung haben wie in auf den Wecker gehen, was streng genommen weder mit gehen noch Weckern etwas zu tun hat), mehr jedoch nicht. Aber das kann noch nicht alles sein.

      Wenn man nun eine Anzahl von Wörtern irgendwie miteinander verbinden will, braucht man eine Bauanleitung – ganz ähnlich, wie wenn man in einem Möbelhaus ein flaches Päckchen kauft, aus dem später einmal ein Schrank werden soll, und nach Auspacken des Päckchens vor einer Menge an Brettern, Schrauben, Muttern und anderer Teile steht, denen man nicht direkt ansieht, wie sie zusammengehören. Üblicherweise (hoffentlich!) ist eine Bauanleitung mitgeliefert. Wenn wir Wortgruppen bis hin zu Sätzen bilden, wenden wir ebenfalls eine Art Bauanleitung an, die in unserem Kopf verankert ist. Das ist nun nicht ein schlecht kopiertes DIN-A4-Blatt wie bei unserem Schrank, sondern eine bestimmte ›Programmierung‹ im Hirn, die wir im Lauf des Spracherwerbs aus der Beobachtung unseres linguistischen Umfeldes – ein hochtrabender Name für alles, was wir an Sprache hören oder sonstwie aufnehmen