Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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definiert ist. Kommissive und Direktive bilden in dieser alternativen Taxonomie eine gemeinsame Klasse von RegulierungshandlungenHandlungRegulierungshandlung, die über die Wort-Welt-Ausrichtung Welt-nach-Wort (↑) konstituiert wird.

      Die Klasse Expressive Sprechakteder expressiven SprechakteSprechaktexpressiver (die man in Brandt et al. 1992 als Klasse der Ausdruckshandlungen wiederfindet) scheint dagegen wiederum recht homogen über den Ausdruck psychischer Zustände charakterisiert zu sein. Hierunter fallen zum Beispiel der Ausdruck von Bedauern, von Freude oder von Schmerz. Searle fasst unter diese Gruppe allerdings auch Begrüßungen (Guten Morgen!) oder Gratulationen (Gratulation zur Beförderung!), bei denen nicht notwendigerweise ein entsprechender psychischer Zustand vorliegen muss und die möglicherweise nicht einmal notwendig einen solchen psychischen Zustand kommunizieren. Auch die Annahme einer fehlenden Wort-Welt-Ausrichtung ist durchaus nicht unkontrovers, da der Ausdruck von Schmerz oder von Freude offenbar einen entsprechenden psychischen Zustand voraussetzt. Das Kriterium der Wort-Welt-Ausrichtung orientiert sich folglich sehr eng an der semantischen Unterscheidung zwischen propositionalem und expressivem Gehalt einer Äußerung, eine Unterscheidung, auf die wir in Kapitel 7 zurückkommen.

      Die letzte Klasse in Searles Taxonomie, die Deklarative Sprechakteder deklarativen SprechakteSprechaktdeklarativer, ist die vielleicht prominenteste Klasse, da entsprechende Sprachhandlungen bereits in Austin (1962) unter dem Begriff der performativen SprechakteSprechaktperformativer eingehend diskutiert werden und sich bei diesen Fällen der Handlungscharakter der Äußerungen vielleicht am deutlichsten herauskristallisiert: Wenn die Bundespräsidentin den zukünftigen Kanzler (fristgerecht nach der Kanzlerwahl) ernennt, dann ist die betreffende Person mit der Ernennung (durch [56]Verlesen und Übergabe der Ernennungsurkunde) Kanzler. Mit anderen Worten: Die Äußerung selbst verändert die Welt (und dies eben nicht nur in dem Sinne, dass etwas neu geäußert wurde oder dass sich der kognitive Zustand des Adressaten durch die Verarbeitung der Äußerung verändert hat). Deklarative Sprechakte sind in der Regel an ein Ritual oder zumindest an eine Art von Autorität gebunden: In Deutschland kann nur der Bundespräsident jemanden zur Kanzlerin ernennen und dies auch nur unter ganz spezifischen formalen Vorgaben. Andererseits kann natürlich ein Kind beim Playmobil-Spielen ganz informell qua Autorität festlegen, dass die eine Playmobil-Figur im Spiel jetzt der Papa ist und die andere die Mama.

      3.6 Zwischen Semantik und Pragmatik

      Die Diskussion in den letzten fünf Abschnitten hat gezeigt, dass sprachliche Kommunikation auf verschiedenen Ebenen stattfindet: explizit sprachlich kodiert, aber auch implizit (nicht-monoton) inferiert; auf einer inhaltlichen (propositionalen) Ebene, aber auch auf einer Handlungsebene. Möchte man sich dieses System nochmals in Gänze am Beispiel der Äußerung ich habe gerade leider viel zu tun vor Augen führen, dann könnte dies wie folgt aussehen: Für jedes einzelne Wort in dem Satz ich habe gerade leider viel zu tun haben wir in unserem mentalen Lexikon eine gelernte Bedeutung abgespeichert, Von der Ausdrucksbedeutung zur Äußerungsbedeutungdie AusdrucksbedeutungAusdrucksbedeutung des Wortes. In dem Satz ich habe gerade leider viel zu tun werden diese Ausdrucksbedeutungen entlang der syntaktischen Struktur zu einer komplexen Ausdrucksbedeutung kombiniert. Diese komplexe Ausdrucksbedeutung muss (um beurteilbar zu sein) in der Äußerungssituation verankert werden, insbesondere muss den deiktischen Ausdrücken ein referenzieller Bezug zugewiesen werden. Das Resultat der Verankerung der Ausdrucksbedeutung des Satzes im Äußerungskontext haben wir seine ÄußerungsbedeutungÄußerungsbedeutung genannt.

      Wie wir in Kapitel 7 noch sehen werden, kann sich diese Äußerungsbedeutung grundsätzlich aus expressiven und aus propositionalen Bestandteilen zusammensetzen. Beschränken wir uns auf den propositionalen GehaltGehaltpropositionaler der Äußerungsbedeutung des Satzes ich habe gerade leider viel zu tun (»dass ich gerade viel zu tun habe«), dann fällt dieser im Wesentlichen mit dem zusammen, was Grice (1975) als das GesagteGesagtes bezeichnet hat. Mit der Äußerung von ich habe gerade leider viel zu tun wird dieser propositionale Gehalt (das Gesagte) behauptet (Handlungsebene). Ausgehend von der Behauptung des Gesagten können nun auf der Basis der Grice’schen Maximen weitere Annahmen darüber getroffen [57]werden, worin der Von der Äußerungsbedeutung zum kommunikativen Sinneigentliche kommunikative Sinnkommunikativer Sinn der Äußerung besteht, was mit ihr gemeintGemeintes ist. In einem Kontext, in dem ein Studierender außerhalb der Sprechstunde an meine Tür klopft und etwas mit mir besprechen möchte, könnte dies zum Beispiel die Aufforderung sein, ein anderes Mal vorbei zu kommen. Dies wäre eine (partikulare) Konversationsimplikatur. Die Beziehung der fraglichen Ebenen zueinander ist in Abbildung 3.4 schematisch dargestellt.

      Abb. 3.4: Erste schematische Darstellung der Interpretationsebenen

      Wie die Darstellung in Abbildung 3.4 nahelegt und auch schon mehrfach angedeutet wurde, werden die Begriffe Sprechakt und kommunikativer Sinn in dieser Einführung so verwendet, dass sie Unterschiedliches bezeichnen: Der Begriff des Sprechakts bezieht sich auf eine sprachliche Handlung, der Begriff des Kommunikativer Sinn und Sprechaktkommunikativen Sinnskommunikativer Sinn ist dagegen ein rein inhaltlicher Begriff und fällt im Wesentlichen mit dem Begriff der (partikularen) Konversationsimplikatur im Sinne von Grice (1975) zusammen. Das ist grundsätzlich konsistent mit der ursprünglichen Verwendung in Bierwisch (1980), auf den der Begriff des kommunikativen Sinns letztlich zurückgeht. Tatsächlich ist die Beziehung zwischen kommunikativem Sinn und Sprechakt mit Bierwisch (1980) jedoch etwas komplexer: Der kommunikative Sinn ist in dem Sinne als Teil eines Sprechaktes aufzufassen, als er erst zur Realisierung eines Sprechaktes führt. Daher müsste der kommunikative Sinn in dem obigen Schema eigentlich dem Sprechakt vorausgehen. Da wir die Beziehung zwischen der Äußerung eines Satzes und dem mit der Äußerung typischerweise verbundenen Sprechakt direkter charakterisieren würden (über eine Default-Beziehung), weichen wir hier von Bierwisch (1980) ab. Im Fall indirekter Sprechakte müsste man dem kommunikativen Sinn aber tatsächlich eine weitere Sprechaktebene nachschalten, die die primäre Illokution bezeichnet.

      So weit, so gut. Die zentrale Idee von Grice ist also, dass wir das Gemeinte auf der Basis des Gesagten, den Grice’schen Maximen und Weltwissen ableiten. Das Gesagte ist dabei als der Teil einer Äußerungsbedeutung aufzufassen, der grundsätzlich als wahr oder als falsch bewertbar ist. In der Semantik (Kapitel 7) ist hierfür auch der Begriff der PropositionProposition (Aussage) üblich. Eine zentrale Beobachtung ist nun, dass sprachliche Unvollständige ÄußerungenÄußerungen für sich genommen im Allgemeinen noch keine Proposition (also eine als wahr oder falsch bewertbare Aussage) ausdrücken. Machen wir hierzu ein konkretes Beispiel: Zu Beginn von Kapitel 2 hatten wir eine Situation beschrieben, in der Erna, Lisbeths beste Freundin, nachmittags bei Lisbeth zu Besuch ist. Erna setzt sich an den Tisch und Lisbeth bietet ihr daraufhin mit den Worten »Eine Tasse Kaffee?« eine Tasse Kaffee an. Lassen wir Erna nun wie folgt antworten: »Ich hatte schon drei.«

      Wie für die Frage »Eine Tasse Kaffee?« ist auch für die Antwort »Ich hatte schon drei.« offensichtlich, dass sie keinen vollständigen Satz darstellt und die Verankerung der deiktischen Ausdrücke damit allein noch nicht zu einer als wahr oder falsch bewertbaren Aussage (einer Proposition) führt: Die Äußerung »Ich hatte schon drei.« ist in dem Sinne unvollständig, dass durch die Äußerung selbst nicht explizit gemacht wird, wovon Erna schon drei hatte. Im Kontext der Frage ist zwar sofort klar, dass es sich um drei Tassen Kaffee handelt, und wir werden die Äußerung auch sofort entsprechend gedanklich ergänzen, aber diese Annahme ist eben eine Annahme, die wir auf der Basis des Kontexts machen und nicht (allein) auf der Basis der Äußerung. Da die Verankerung der Ausdrucksbedeutung einer Äußerung im Äußerungskontext