Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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sind.

      Regeln der Art ›Nach wegen hat man den Genitiv und nicht den Dativ zu gebrauchen‹ kann man als präskriptive Regeln RegelpräskriptiveDer Regelbegriff in der Linguistikbezeichnen: Sie geben Hinweise, wie man zu schreiben oder zu sprechen hat, wenn man bestimmte stilistische Standards erfüllen will. Präskriptive Regeln interessieren den Linguisten nicht, höchstens in der Form, dass der Linguist schließen kann, dass eine bestimmte sprachliche Form im System existiert, wenn es eine präskriptive Regel gibt, die diese Form verbietet. Das ist sehr nützlich, wenn man z. B. historische Sprachen untersucht.

      Diejenigen Regeln, die den Linguisten interessieren, sind Regeldeskriptivedeskriptive Regeln, also Beschreibungen des Ist-Zustandes, im Idealfall Generalisierungen Generalisierungüber die Gesamtmenge der sprachlichen Äußerungen, aus denen man etwas über das sprachliche System oder die Funktionsweise des Hirnes lernen kann und im Idealfall zu generativen RegelnRegelgenerative, also Bauanleitungen, kommen kann.

      Wir werden nun im Folgenden einige Aspekte der Syntax zu beleuchten versuchen. Ausführlichere Darstellungen finden sich in Lehrbüchern wie Dürscheid (2007), Pittner/Berman (2013) oder Wöllstein-Leisten et al. (1997). Sehr zu empfehlen sind auch die neueren Versionen der Dudengrammatik, z. B. Duden (2016). Wir werden zu den einzelnen Themen weitere Lesehinweise zur Vertiefung geben.

      4.2 Topologie und Wortstellung

      Dem Geist dieses Einführungsbuches folgend, wollen wir uns vom Größeren zum Kleineren begeben. Das heißt dann, dass wir jetzt hier zunächst mit dem Satz als Ganzem beginnen (bzw. dem einfachen Satz; den Satzgefügen werden wir uns erst am Schluss des Kapitels widmen). Die Einteilung des einfachen Satzes wird in der germanistischen Linguistik häufig mit dem topologischen Feldermodell geleistet, weswegen wir es hier vorstellen wollen. Zunächst aber nähern wir uns dem Thema von einer etwas anderen, weniger theoretischen Perspektive, nämlich dem der Wortstellung.

      ManWortstellungfreie hört manchmal, das Deutsche habe ›Freie‹ Wortstellungeine freie Wortstellung. Nun ist der Begriff der freien WortstellungWortstellung sowieso etwas schillernd. Heißt das, dass grundsätzlich alles möglich ist? Vielleicht. Es gibt jedoch wenige Sprachen, in denen das der Fall ist. Nicht einmal das Lateinische, das als Paradebeispiel für [70]freie Wortstellung gilt, lässt alle möglichen Abfolgen zu. Heißt das, dass die Abfolge der Elemente völlig beliebig ist? Das mit Sicherheit nicht; in den allermeisten Sprachen mit ›freier Wortstellung‹ (Latein inklusive) gibt es Faktoren, die die Wortstellung steuern. Was den Anschein der ›Freiheit‹ hervorruft, ist, dass diese Faktoren nicht grammatischer Art sind, wie in Sprachen mit ›fester Wortstellung‹ wie dem Englischen. Im Englischen ist es völlig klar: Zuerst kommt das Subjekt, dann das Verb, dann das Objekt, dann präpositionale Elemente. Im Lateinischen wäre das eine Stellungsmöglichkeit unter vielen (und eine wenig benutzte); dort steht das, was am wenigsten informativ ist, vorne, und je informativer ein Element ist, desto weiter hinten steht es.

      Wie ist es mit dem Deutschen? Das Deutsche nimmt hinsichtlich der Wortstellung eine Mittelstellung zwischen dem Lateinischen und dem Englischen ein. Vieles ist ›frei‹ in dem Sinne, dass nicht-grammatische Faktoren eine große Rolle spielen. Doch es gibt einige Konstanten in der Wortstellung, die absolut feststehen, und dazu gehören die Positionen der verbalen Bestandteile. Diese Beobachtung führte zu dem deskriptiv sehr adäquaten Motivation des topologischen FeldermodellsModell der Topologischen Felder, topologisches Feldermodelldas wir jetzt hier vorstellen wollen. Wir halten uns dabei an die Standardversion, wie sie z. B. in Pittner/Berman (2013) oder Grewendorf/Hamm/Sternefeld (1987) vorgestellt wird, reichern sie aber mit Gedanken an, wie sie Höhle (1986), einer der Pioniere der ›modernen‹ Topologie, formuliert hat, ganz ähnlich wie das z. B. auch Wöllstein (2014) in ihrem Band zur Topologie tut.

      Wenn wir eine Reihe ganz normaler Sätze des Deutschen betrachten, wie die in (4.3), können wir einige Generalisierungen über die Anordnung der Wortgruppen (weiter hinten werden wir das begrifflich als ›Konstituenten‹ etwas genauer fassen) anstellen. Die Sätze in (4.3 a–e) sind Hauptsätze, Satz (4.3 f) ist ein Nebensatz. Zunächst zu den Hauptsätzen: Wir sehen an (4.3 b–d), dass Verbformen über den Satz verteilt auftauchen. Ein Teil steht vorne, ein Teil steht hinten. Wir können noch mehr über die Verteilung der Bestandteile der Verbformen sagen: Der Teil, der eher vorne steht, ist der finite Teil der Verbform, der hintere Teil ist der Rest der Verbform. Das können infinite Teile der Verbform sein, wie in den Beispielen, aber auch z. B. Verbpartikel bei zusammengesetzten Verben (Wir reisen morgen ab). Wenn ein Verb nur aus einer Verbform besteht, steht diese vorne, wie in (4.3 a, e). Und wenn wir nun auf den Nebensatz schauen, stellen wir fest, dass da die Verbform eben nicht über den Satz verteilt auftritt, sondern dass sie ganz hinten steht. Vorne steht dafür eine Konjunktion. Diese festgelegten Verbpositionen geben dem ganzen Satzgebilde einen Rahmen bzw. eine Klammer. Folglich hat sich als Bezeichnung für diese beiden Verbpositionen eingebürgert, sie Satzklammern zu [71]nennen. Die vordere ist dieSatzklammerlinke Linke Satzklammer, die hintere die SatzklammerrechteSatzklammerrechteRechte Satzklammer. Den Rest des Satzes kann man nun relativ zu diesen Satzklammern bestimmen: Es gibt eine Position vor der Satzklammer, die naheliegenderweise VorfeldVorfeld Das topologische Feldermodellheißt, eine hinter der Satzklammer, das NachfeldNachfeld, und schließlich noch den Raum zwischen den Klammern, das MittelfeldMittelfeld. Wir haben diese Felder in den Sätzen (4.3) durch Striche und die abgekürzten Feldernamen in der untersten Zeile angedeutet.

      Wir können nun aber auch ›vorne‹ definieren. Vorne heißt in diesem Fall: entweder ganz vorne, wie in (4.3 d, e), oder nach der ersten unabhängigen Konstituente, wie in (4.3 a–c). Welcher Fall eintritt, hängt letztlich von der Funktion des Satzes ab. Der SatztypenSatztyp DeklarativsatzDeklarativsatz (4.3 a, b), der von der Funktion her eine Aussage tätigtAussagesatz, hat im Normalfall eine Konstituente vor dem finiten Verb, also im Vorfeld, ist also vom Verbstellungstyp her ein VerbzweitsatzVerbzweitsatz. Bei Interrogativsätzen, Interrogativsatzmit deren Hilfe man Fragen stellt, ist die Zuordnung schwieriger, da es in Gestalt der Fragesatzw-FragesatzWortfragesätze bzw. w-Fragesätze (4.3 c) ebenfalls Verbzweitsätze gibt, nur gilt da die Bedingung, dass das Element im Vorfeld das Fragewort bzw. die Fragephrase sein muss. Bei EntscheidungsfragesätzenFragesatzEntscheidungsfragesatz gibt es hingegen kein Vorfeld, sondern sie beginnen gleich mit der Linken Satzklammer, sind also VerberstsätzeVerberstsatz. Für Sätze, deren Funktion es ist, Befehle Befehlsatzauszudrücken (vom Formtyp her wären das ImperativsatzImperativsätze, 4.3 e), gilt dasselbe. GliedsatzGliedsätze wie in (4.3 f) schließlich haben alles verbale Material in der Rechten Satzklammer. Die linke Peripherielinke Peripherie (also das Vorfeld und die Linke Satzklammer zusammengenommen) beherbergt in diesen Sätzen einleitende Element wie z. B. KonjunktionKonjunktionen oder RelativpronomenRelativpronomen. Dieser Verbstellungstyp wird häufig als VerbletztsatzVerbletztsatz bezeichnet.

      Die Beziehung zwischen den Verbstellungstypen, Formtypen und den Funktionstypen wird unter dem SatzmodusBegriff des SatzmodusSatzmodus eingehend diskutiert, und ist tatsächlich deutlich komplizierter, als wir es hier dargestellt haben (siehe auch Abschnitt 3.5). Grundlegende Arbeiten dazu wären Brandt/Reis/Rosengren/Zimmermann (1992) und Lohnstein (2000).

      Es ist auch möglich, Aussagen zu den einzelnen Positionen zu treffen. Über die Satzklammern haben wir bereits geredet. Das VorfeldDas VorfeldVorfeld als Position vor der Linken Satzklammer zeichnet sich dadurch aus, dass es im Normalfall nur eineKonstituenteunabhängige unabhängige Konstituente beherbergen kann. Wie wir in Abschnitt 4.3 näher diskutieren werden, ist eine Konstituente eine in sich geschlossene [72]Wortgruppe, innerhalb derer die Worte in einer gewissen Beziehung