Ingo Reich

Deutsche Sprachwissenschaft. Eine Einführung


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in ihrer Explizitheit vielleicht etwas skurril anmutende Rekonstruktion der Herleitung einer Konversationsimplikatur macht die Charakteristika dieser Art von Implikaturen recht deutlich: Das Gesagte für sich genommen stellt einen Verstoß gegen (mindestens) eine der Maximen dar. Gleichzeitig gibt es aber keine erkennbaren Gründe anzunehmen, dass sich der Sprecher nicht kooperativ verhält. Die Implikatur, das Gemeinte, ergibt sich dann letztlich aus der Frage, wie man diese beiden Sachverhalte miteinander in Einklang bringen kann. Grice spricht hier Ausbeutung und Aufhebbarkeitvon AusbeutungAusbeutung. Bei der Beantwortung der Frage, wie beide obigen Annahmen miteinander vereinbart werden können, müssen wir erstens notgedrungen auf unser Weltwissen zurückgreifen und können zweitens nur plausible Vermutungen anstellen, die sich auch als falsch erweisen können. So hätte ich als Sprecher meine Äußerung ergänzen können durch: »Aber ich glaube Augustin Speyer ist heute dran«. Dies widerspricht explizit der Implikatur, dass ich zur Mensazeit die Einführungsvorlesung halten muss, und der Adressat wird daher entweder die Implikatur erst gar nicht ziehen oder sie wieder verwerfen müssen. Grice spricht hier davon, dass [46]Konversationsimplikaturen aufgrund ihres indirekten (nicht-monotonen) Charakters aufhebbarAufhebbarkeit (cancelable) sind.

      Ein besonderes Charakteristikum dieser Art von Konversationsimplikatur ist, dass die Implikaturen nur in ganz spezifischen Kontexten überhaupt entstehen, also einen sehr hohen Grad an Kontextabhängigkeit aufweisen. Stellen wir uns zur Illustration einen ganz anderen Kontext vor. In diesem anderen Kontext planen wir mit der ganzen Abteilung die Lehre für das kommende Semester. Ein neuer Mitarbeiter sagt, dass er seinen Grundkurs (zur Einführungsvorlesung) gerne dienstags von 12–14 Uhr halten würde. Darauf erwidere ich: »Um 12 Uhr ist die Einführungsvorlesung«. In diesem Kontext löst die Äußerung eine ganz andere Implikatur aus. Der neue Mitarbeiter wird die Äußerung sicher so verstehen, dass er mit seinem Grundkurs auf einen anderen Termin ausweichen muss. Und in einem Kontext, in dem ein Studierender von mir die Grice’sche Theorie der Konversationsimplikaturen erklärt bekommen möchte, wird er die Äußerung als Aufforderung verstehen, vielleicht doch besser in die Vorlesung zu gehen. Implikaturen, die nur in solchen ganz spezifischen Kontexten entstehen, werden in der Partikulare KonversationsimplikaturenLiteratur partikulare Konversationsimplikaturen genannt. Partikulare Konversationsimplikaturen entstehen typischerweise durch Ausbeutung einer Maxime, beinhalten also meist einen (scheinbaren) Verstoß und sind damit für den Adressaten vergleichsweise leicht wahrnehmbar bzw. auffällig.

      Partikulare KonversationsimplikaturenImplikaturpartikulare sind Konversationsimplikaturen, die ganz spezifische Kontexte benötigen, um den fraglichen Inferenzprozess auszulösen.

      Generalisierte KonversationsimplikaturenImplikaturgeneralisierte sind Konversationsimplikaturen, die ganz spezifische Kontexte benötigen, um den Inferenzprozess zu blockieren.

      Die Beachtung von Konversationsmaximen führt in der Regel ebenfalls zu Konversationsimplikaturen, so genannte Generalisierte Konversationsimplikaturengeneralisierte Konversationsimplikaturen. Diese sind aber eher unauffälliger Natur, da sie gewissermaßen den Normalfall darstellen und es ganz spezifische Kontexte braucht, damit sie nicht entstehen. Geben wir auch hierzu ein einfaches Beispiel: Aufgrund der Maxime der Qualität löst bei Annahme der Beachtung jede Äußerung eines (deklarativen) Satzes S die Implikatur aus, dass der Sprecher glaubt, dass S [47]wahr ist. Diese Implikatur wird jetzt nur unter ganz spezifischen Umständen blockiert. Ein solcher Umstand wäre Ironie.

      Da die Maxime der Qualität einen etwas besonderen Status hat, möchte ich das Phänomen der generalisierten Konversationsimplikaturen hier lieber am Beispiel der Beachtung der Maxime der Quantität illustrieren. Nehmen wir an, ich gebe die Klausur zur Pragmatik-Vorlesung zurück und sage in meinen einleitenden Einige sagen, nicht alle meinenWorten: Einige Studierende haben die Klausur bestanden. Wie würden Sie diese Äußerung verstehen? Vermutlich als: Nicht alle Studierende haben die Klausur bestanden. Und entsprechend würde sich wohl etwas Unruhe im Plenum breit machen. Die zentrale Beobachtung ist nun, dass mit der Äußerung von einige X ein Sprecher im Regelfall gleichzeitig nicht alle X kommuniziert: Wenn ich sage, dass einige deutsche Spieler bei der WM 2018 gut gespielt haben, dann lege ich nahe, dass das nicht auf alle zutrifft. Und wenn ich sage, dass einige Würstchen beim Grillen nicht verbrannt sind, dann heißt es für die Adressaten der Äußerung: Augen auf bei der Auswahl der Würstchen.

      Die Tatsache, dass in der Regel mit einer Äußerung von einige auch nicht alle kommuniziert wird, könnte zu der Annahme verführen, dass dies Teil der lexikalischen Bedeutung von einige ist: Einige bedeutet eben einige und nicht alle. Tatsache ist aber auch, dass einige nicht in jeder Verwendung einige und nicht alle bedeuten kann. Wenn ich zum Beispiel sage, dass ich gestern Abend einige Gläser Wein getrunken habe, dann will ich damit nicht nahelegen, dass ich nicht alle Gläser Wein getrunken habe. Oder wenn eine Kollegin bei mir zu Hause anruft und mir sagt, dass einige Studierende vor meinem Büro warten, dann wird sie damit ebenfalls nicht sagen wollen, dass nicht alle Studierende vor meinem Büro warten. Diese Beispiele sind nicht einfach zu erklären, wenn man einen Semantik oder Pragmatik?semantischen Ansatz verfolgt. Aus pragmatischer Perspektive kann man dagegen argumentieren, dass die Inferenz von einige auf nicht alle eben in solchen Kontexten blockiert wird, in denen das Quantifizierte (also die Studierenden bzw. der Wein) keine (wie auch immer) abgeschlossene Menge darstellt (innerhalb der wir die eine Gruppe von Personen bzw. Objekten mit der anderen kontrastieren können).

      Die Frage aber bleibt, wie diese Generalisierte Quantitätsimplikaturengeneralisierten Konversationsimplikaturen zustande kommen. Im Allgemeinen wird mit Grice angenommen, dass Implikaturen dieser Art auf die Beachtung der Maxime der Quantität zurückgehen. Nehmen wir an, es hätten tatsächlich alle Studierende die Klausur bestanden. Dann ist sowohl die Aussage, dass alle Studierende die Klausur bestanden haben, wahr als auch die Aussage, dass einige Studierende die Klausur bestanden haben. Denn wenn alle die Klausur bestanden haben, dann haben notwendigerweise immer auch einige die Klausur bestanden. Aber die Aussage, dass alle [48]Studierende die Klausur bestanden haben, ist in diesem Kontext die informativere und damit nach der Maxime der Quantität auch angemessenere Äußerung. Wenn nun aber der Sprecher die weniger informative Aussage äußert und wir davon ausgehen können, dass er die Maxime der Quantität beachtet, dann müssen wir daraus schließen, dass die Voraussetzung für die stärkere Aussage nicht gegeben ist. Und diese Voraussetzung ist, dass alle Studierende die Klausur bestanden haben. Also werden wir daraus schließen, dass nicht alle Studierende die Klausur bestanden haben.

      Interessanterweise findet sich das obige Muster – die Äußerung eines schwächeren AusdrucksSkalare ImplikaturenImplikaturskalare implikatiertimplikatieren das Nichtzutreffen des stärkeren Ausdrucks – nicht nur im Fall von einige und alle, sondern zum Beispiel auch bei können und müssen: Wenn ich mir einen Keks nehmen kann, dann muss ich ihn mir nicht nehmen. Oder auch bei glauben und wissen: Wenn ich sage, dass ich glaube, dass Augustin Speyer in seinem Büro ist, dann heißt das eben auch, dass ich es nicht (sicher) weiß. Dass dieses Phänomen ein sehr systematisches ist, wurde unter anderem in Horn (1972) beobachtet, der die Idee entwickelte, dieses Muster in so genannten SkalenSkala (heute Horn-Skalen genannt) zu formalisieren. Eine Skala meint in diesem Zusammenhang eine geordnete Liste von gleichartigen Ausdrücken, wobei der links stehende Ausdruck immer echt informativer ist als der rechts stehende Ausdruck. So ist < alle, einige > eine Skala bestehend aus den Quantoren einige und alle, < müssen, können > eine Skala bestehend aus den Modalverben können und müssen, und < wissen, glauben > eine Skala bestehend aus den Verben der propositionalen Einstellung glauben und wissen. Die Generalisierung ist nun, dass bei einer Skala < A2, A1 > der Ausdruck A2 (qua lexikalische Bedeutung) echt informativer ist als der Ausdruck A1 und die Äußerung von A1 (daher) im Normalfall das Nichtzutreffen von A2 kommuniziert. Diese Annahme lässt sich auch auf größere Skalen wie z. B. Numerale < n, n-1, …, 5, 4, 3, 2, 1 > generalisieren: Wenn ich einem Polizisten sage, dass ich 2 Gläser Wein getrunken habe, dann wird er davon ausgehen, dass ich keine 3 getrunken habe, und auch keine