Charles de Montesquieus De l’esprit des loix (Vom Geist der Gesetze, 1748)? Wie erklären wir, dass sich unter dem Einfluss leitender Staatstheorien im Zuge der Aufklärung abschottende Identitäten des Nationalen herauszubilden begannen? Ganz zu schweigen von Durchbrechungen des angeblich so charakteristischen Universalismus der Aufklärung in Form von Rassenhierarchien und Geschlechterdifferenzen, die oft scheinbar unversöhnt neben Bekenntnissen zu Gleichheit aufscheinen: Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung beginnt mit dem Satz: »All men are created equal.« Einschluss und Ausschluss, das Allgemeine und das Besondere: Die Aufklärung atmet beides.
In diesem Zusammenhang wird manchmal behauptet, die Aufklärung sei ein wesenhaft kolonialistisches Projekt und setze das rationale, europäische Denken dem »unzivilisierten« Wesen anderer Völker entgegen. In dieser pauschalen Form ist diese These jedoch ebenso wenig haltbar. Wer sie vertritt, muss ausblenden, wie Literaten und Denker der Aufklärung über die Bande des Kulturvergleichs ihre eigene Gesellschaft kritisieren – gerade auch in ihren kolonialen Verstrickungen und ›nationalen Sünden‹. Man denke nur an den Erzaufklärer Denis Diderot und seine Kritik an der leibfeindlichen, künstlichen, verdorbenen Lebensform des christlichen Europäers in seinem Supplément au voyage de Bougainville (Nachtrag zu »Bougainvilles Reise«, 1772), in welcher der Europäer zum »Vergifter der Völker« gestempelt wird.3 Auch übersieht so ein Vorwurf die neugierige Aufgeschlossenheit vieler gegenüber außereuropäischen Kulturen und Religionen, wie sie sich in zahlreichen Klassikern des aufklärerischen Denkens andeuten. Darunter fallen etwa die dem Konfuzianismus Anerkennung zollende Rede über die praktische Philosophie der Chinesen (1721) des Philosophen und Logikers Christian Wolff oder auch die Chinastudien von François Quesnay. Sich durch die Augen der anderen zu sehen, sich in der Auseinandersetzung mit dem Fremden selbst besser zu verstehen, macht die Faszination von Verkaufsschlagern wie den Lettres Persanes (Persische Briefe, 1721) von Montesquieu oder auch Georg Forsters A Voyage round the World (Reise um die Welt, 1778) aus. Und doch haben jene Recht, die – ohne in die Falle einer pauschalen moralischen Verurteilung ›der Aufklärung‹ zu tappen – darauf hinweisen, wie widersprüchlich gerade ihre menschenfreundlichsten Köpfe manchmal waren. Humanistische Rassisten: Der Aufklärung sind sie keineswegs fremd.
Diese Schlaglichter sollten genügen, um zu unterstreichen, dass es sich bei der Aufklärung um kein homogenes Projekt und kein widerspruchsfreies Programm, sondern um ein komplexes Ineinandergreifen vielfältigster Vorstellungen und Praktiken handelt. Die Aufklärung kann also nicht als ›Große Erzählung‹ nacherzählt werden, ohne dabei auch diese Vielstimmigkeit und Uneindeutigkeiten ans Licht zu ziehen. Am nächsten kommt man der Aufklärung, wenn man sie als Mosaik vieler kleiner Geschichten vorstellt, um deren eigentlichen Gehalt und Moral man immer wieder aufs Neue ringen darf und auch soll. Es sind dies, wenn man so will, Geschichten davon, was konkrete Menschen getan und gedacht haben, was sie erschaffen haben an Bildern der Welt und niedergerissen, mit und gegen was sie gekämpft, was sie erstrebt und erreicht haben und woran sie gescheitert sind.
Gibt es etwas, das diese Geschichten verbindet und uns trotz dieser Uneindeutigkeit noch erlaubt, von der Aufklärung zu sprechen? Ein möglicher Anknüpfungspunkt liegt in der krisenhaften existentiellen Verfassung des Menschen im Aufklärungszeitalter und die aus ihr sich speisenden und auf sie rückwirkenden Ideen und Praktiken.
Der Humus der Krise
Warum, so fragt man zu selten, wurde in dieser Zeit so vieles neu gedacht, so vieles umgestoßen, ja: so besessen reformiert? Es lag nicht allein an der Herausbildung des Bewusstseins für einen offenen Zeithorizont, das entstehen konnte, sobald die Weltgeschichte aus dem »Mittelalter« zwischen Geburt Jesu und seiner Wiederkehr befreit wurde. Mit diesem Bewusstsein wurde Fortschritt denkbar, doch wurde er so noch nicht zu einem Imperativ.
Spätestens seit dem Beginn der Reformation, aber auch der Rezeption antiker skeptischer Philosophie und der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen, gärt im frühneuzeitlichen Europa eine um sich greifende Krise der Legitimation. Diese erstreckte sich nach und nach auf nahezu alle Bereiche bestehender Denk- und Handlungsordnungen. In den damaligen Wissenschaften tritt sie als Krise von denkerischer, epistemischer Autorität in Erscheinung, allen voran der Autorität der an Aristoteles orientierten Systemphilosophie der mittelalterlichen, karikaturhaft als absolut weltfremd verstandenen Scholastik: Für sie war Aristoteles die unhinterfragbare Autorität, war er »der« Philosoph, wie man ihn hochachtungsvoll nannte. Was brauchte man da noch mehr?
Ein Paradigmenwechsel hin zu einer induktiven, von Einzelfällen ausgehenden, erfahrungsbasierten und erfahrungsgesättigten Logik der Naturwissenschaften kündigte sich spätestens Ende des 15. Jahrhunderts an, beispielhaft etwa in den Erfolgen von Ingenieuren wie Leonardo da Vinci. Die Wiederentdeckung antiken Denkens hatte die Erschütterung bisher als unumstößlich angesehener Lehrsätze und ableitender bzw. deduktiv(-religiös)er Legitimationsweisen von Wissen zur Folge. Zu nennen sind die auf sinnliche Erfahrbarkeit einer materialistisch gedachten Welt pochenden Schriften Lukrez’ und Epikurs. Auch die Integration wissenschaftlicher Vorleistungen arabischer und persischer Gelehrter, etwa von Ibn Ruschd und Ibn Tufail, war von Bedeutung.
Mit der Reformation, die ihren Erfolg unter anderem auch dem neu entwickelten Buchdruck verdankt, wird auch die Begründung von Herrschaft krisenhaft zum Thema. Regenten »von Gottes Gnaden« werden unweigerlich zu Usurpatoren in den Augen jener Untertanen, die andere Auffassungen vom wahren Gottesdienst und der richtigen Auslegung der Schrift haben – und dies umso mehr, wenn sie von den zur »Verteidigung des rechten Glaubens« bestimmten Fürsten wegen ihrer Überzeugungen verfolgt werden. Mit dem Verlust der konfessionellen Homogenität in konfessionell gefassten Staatsgebilden wird der Andersgläubige nahezu zwangsläufig zum illoyalen Bürger. Seine Verfolgung macht die Prophezeiung selbsterfüllend: Er wird zum Staatsfeind, wenn er Ungehorsam gegen seinen Oberherrn mit Verweis auf die höherrangige Autorität des Papstes (wie etwa die Katholiken in England) oder die Widerstandstheorie Calvins (wie etwa »Hugenotten« in Frankreich) rechtfertigt.
Die Herausbildung konfessionell zersplitterter Fürstentümer verlieh theoretischen Rechtfertigungen von Herrschaft eine völlig neue Brisanz. Warum sollte überhaupt jemand über andere herrschen? Politische Utopien, die der Frage nachgehen, wie alles ganz anders sein könnte, und politische Traktate, die wie Geschütze vor oder gegen konkrete Regierungen positioniert werden, sind Ausdruck dieses Ringens, das schließlich folgenschwer in politischen Umstürzen zu Tage tritt. Die öffentliche Hinrichtung einer Majestät als »Feind des Volkes« (England 1649) oder als »Hochverräter« (Frankreich 1793) war ähnlich wie der Unabhängigkeitskrieg nordamerikanischer Kolonien nur deshalb möglich geworden, weil ein Denken in Alternativen lange geradezu als unverletzbar und heilig angesehene Schranken grundsätzlich hinterfragt und allein durch diese Infragestellung schon schwer beschädigt hat. Ein Untertan, der sich gegen die Obrigkeit erhebt, stellt die »natürliche Ordnung« auf den Kopf – das heißt eine Ordnung, der in vormodernen Gesellschaften die größte, ja ängstlichste Sorge galt. Die Krise der Herrschaftslegitimation erfasst in der frühen Neuzeit die Chain of Being des Sozialen und es wird mehr als ein Schmied versuchen, ihre Glieder neu anzuordnen – unter den Zurufen anderer, die es vorziehen, sie ganz zerbrochen zu sehen.
Nicht nur in ihrer politischen Dimension – in welcher Art politischer Gemeinschaft sollen Christen unterschiedlicher Konfession leben? – wurde Religion in der frühen Neuzeit von Legitimationsschwierigkeiten erfasst. Zwar waren derartige Herausforderungen nicht ganz neu, hatte doch bereits die Frage, was denn die wahre Religion sei, und die Auseinandersetzung mit häretischen Bewegungen sowie Juden und Muslimen mittelalterliche theologische Diskurse geprägt. Solange aber die Verlässlichkeit der Offenbarung als solche innerhalb der eigenen Kultur nicht in Zweifel gezogen wurde, war die Herausforderung noch nicht existentiell: Sie war eine Konfrontation zwischen einem klar identifizierbaren Anderen und einem selbstgewissen Ich. Mindestens zwei Entwicklungen führten nun aber im 17. Jahrhundert dazu, dass die christliche Wahrheit als Offenbarungswahrheit – trotz vehementer Repressionen – unter Druck geriet.
Zum einen geschah dies durch Zweifel an der Singularität und Verlässlichkeit der Offenbarung, wie sie auch durch wachsende außereuropäische Kulturkontakte genährt wurden.