Marie-Luisa Frick

Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess


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seien ›primitive Wüstennomaden‹ gewesen. Wer immer die Texte des Alten Testaments verfasste, habe sie dem ›beschränkten Horizont‹ dieser Menschen angepasst. Dass Moses die Thora verfasst habe, wie nach traditionaler Überlieferung, widerlegt Spinoza mit penibler Textkritik. Diese These war keineswegs neuartig. Spinoza zitiert den mittelalterlichen spanischen Gelehrten Abraham ben Meir Ibn Ezra, der in seinen Kommentaren zur Thora diese These mit Verweis auf Unstimmigkeiten in den biblischen Berichten über Moses andeutete. Schon im 9. Jahrhundert hatte der Perser Chiwi al-Balkhi die Autorität der Thora auf ähnliche Weise angegriffen.8 Letztlich lasse sich, folgerte Spinoza, die Botschaft der Bibel reduzieren auf das Doppel-Gebot der Gottes- und Menschenliebe. Mehr ist vom Juden- und Christentum nach Spinozas Sezierung nicht mehr übrig: Ein praktisches Gebot auf einem prekären theoretischen Untergrund. Denn was kann man über Gott und seine Existenz wissen, wenn die Bibel selbst nichts darüber lehren kann? Mit seiner Ethik, die postum 1677 erschien, versucht Spinoza diese Frage zu klären. Dabei greift er – ähnlich wie bereits der dafür 1600 in Rom verbrannte Giordano Bruno – den Monotheismus an, der eine klare Unterscheidbarkeit von Schöpfer und Schöpfung voraussetzt – mit einer Ineinssetzung von Schöpfung und Schöpfer: Beide seien dieselbe Substanz, bloße Natur. Gott ist die schaffende (res naturans), der Mensch die erschaffene (res naturata). Alles ist Eins, auch Geist und Materie. Gott ist Alles – doch in den Augen von Spinozas Kritikern bedeutete dies: Gott ist nichts. Gott ist überall, Gott ist nirgends. Gott ist in uns und dabei ferner als zuvor.

      In der Geschichte der Aufklärung ist Spinoza eines der bekanntesten Beispiele für den Preis, den man zu zahlen hat, wenn man selbst denkt, keineswegs jedoch das einzige: Ihrer Gesinnung wegen wurden Denker der Aufklärung inhaftiert, wie etwa Hugo Grotius im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der calvinistischen Orthodoxie in den Vereinigten Niederlanden, oder auch Voltaire und Diderot in Frankreich. Verfolgung drohte nicht allein von Königen und Kirchen. So wurde Thomas Paine unter der Terrorherrschaft der Jakobiner in der Französischen Revolution als Konterrevolutionär verfolgt und entging nur knapp dem Fallbeil. Manche, wie Olypme de Gouges oder Nicolas de Condorcet wurden ebenfalls als Feinde der französischen Republik angesehen. Sie kostete der Gehorsam gegenüber den eigenen Überzeugungen das Leben.

      Andere hatten ›nur‹ mit Zensur und Karriereschäden zu kämpfen. Wie etwa David Hume, der sich den Vorwurf eintrug, Atheist zu sein und deshalb nie einen Lehrstuhl erhalten hat, oder auch Christian Wolff, der – ebenfalls des Atheismus bezichtigt – seine Professur verlor und aus Preußen verbannt wurde. Wolffs Vorbildern bzw. Vorgängern, den Rechtsgelehrten und Pionieren des aufgeklärten Naturrechtsdenkens, Samuel von Pufendorf und Christian Thomasius, erging es nicht viel anders. In Briefen klagten sie sich gegenseitig ihr Leid: Sie würden drangsaliert von der lutherischen Orthodoxie, verächtlich gemacht als akademische Lehrer, des Atheismus beschuldigt. Der eine befand sich bereits im Exil in Schweden, der andere auf dem Sprung von der Universität Leipzig nach Halle, wo er sich vom Sächsischen Fürsten jene Denkfreiheit erbat, die ihm die Universitätsleitung verwehrt hatte, als sie ihm ein Druckverbot auferlegte. Er habe sich wohl bemüht, etwas zum allgemeinen Besten beizutragen, bedauert Pufendorf 1685 in einem Brief an Thomasius, »alleine man hat es mir so sauer gemacht, daß mich oft hat gereuen wollen, daß ich weiter, als das vade mecum zu gehen mich erkühnet«.9

      Selbstdenken, so zeigt das Beispiel des französischen Denkers Pierre Bayle, kann aber nicht nur für den Betreffenden selbst gefährlich sein. Der aus einer hugenottischen Familie stammende und in der Tradition der Pyrrhonischen Skepsis stehende Bayle teilt viele Anliegen mit Spinoza, war ihm aber spinnefeind, auch weil er ihn für zu wenig kritisch-skeptisch hielt. Bayle erregte 1683 Aufsehen, als er sich anlässlich der Erscheinung eines Kometen so seine Gedanken machte. In seinen Pensées diverses sur la comète de 1680 setzt Bayle eine Vielzahl subtiler Spitzen gegen die christliche Lehre und die Obrigkeit, etwa: dass das Neue Testament von heidnischem Aberglauben durchdrungen sei, wie er sich etwa darin äußert, in Himmelserscheinungen Vorzeichen zu sehen; dass es nicht darauf ankomme, wie viele Personen oder welche Autorität etwas behaupten, sondern darauf, ob diese die Dinge recht verstehen, und dass auch tausende Jahre überlieferte Vorstellungen falsch sein können; dass christliche Gesellschaften nicht automatisch tugendhafter seien und dass sie ohne staatliche Gesetze schon längst zerfallen wären, denn machtlos seien christliche Werte; dass Atheismus nicht notwendigerweise zum Verfall der Moral führen müsse, sondern sogar dem Gottesglauben überlegen sein kann, da dieser zu allen möglichen Gewaltverbrechen gegen Andersgläubige aufreizen würde.

      Die Ansicht, Kometen deuteten Unglück an, zum Beispiel den Tod eines Königs, kritisierte Bayle auch dafür, dass sie außer Acht lasse, dass der Tod von gewissen Königen auch ein Glücksfall sein könne – je nach Blickwinkel. Und ein König, der von Untertanen abgesetzt werde, weil sie lieber in einer Republik leben möchten, sollte sich laut Bayle damit trösten: Es ist nicht gegen ihn persönlich gerichtet und daher weniger schlimm, als würden sie einen anderen König an seine Stelle setzen. Besonders die letzten beiden Andeutungen konnten Ludwig XIV. nicht gefallen. Da er Bayle – er war bereits im holländischen Exil – nicht habhaft werden konnte, trifft es seinen Bruder, einen calvinistischen Pfarrer, der im Jahr 1685, als das Edikt von Nantes aufgehoben wurde, ins Gefängnis gesteckt wurde – wo er umkam. Bayle selbst starb verarmt und zermürbt von Schuldgefühlen und Anfeindungen im Jahr 1706.

      Selbstdenken für Alle?

      Wie auch Spinoza, ist Bayle für seine Widersacher der Inbegriff anmaßenden Selbstdenkens, das die bestehende Ordnung gefährdet. Selbstdenken, das Leitmotiv der Aufklärungsphilosophie von René Descartes bis Immanuel Kant, ist dort, wo epistemische Autoritäten Gefolgschaft einfordern, ein subversiver Akt. Nicht erst das Ergebnis mündiger Denkarbeit – in Spinozas Fall ein dünner ›Vernunftglaube‹ – ist anstößig, sondern schon die bloße Entscheidung, sich selbst ein Urteil zu bilden. Selbstdenken ist niemals einfach nur ein kognitives Unterfangen, sondern wesentlich Selbstbehauptung (»Ich will das für mich klären«). Der Selbstdenker, schreibt Arthur Schopenhauer, gleicht einem Monarchen, der niemanden über sich anerkennt.10 Wo daher Personen, Gruppen oder Institutionen beanspruchen, Herrscher über wahres Wissen zu sein, wird der Selbstdenker zum Königsmörder.

      Dort, wo Menschen mündig sein wollen, mit Kant gesprochen, wo sie sich trauen, sich ihres Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen, setzen sie epistemische Autoritäten unter Druck und untergraben ihre Macht. Es wäre zu kurz gegriffen, die Bedrohlichkeit des Selbstdenkens allein historisch zu kontextualisieren und damit in gewisser Weise dorthin zu verbannen, wo es uns nicht mehr beunruhigt. Wir verkennen nämlich das Gebot, mündig zu sein, wenn wir es nur als Gefahr für alte Ordnungen, überkommene Denkweisen und grotesken Aberglauben ansehen. Wenn Selbstdenken epistemische Autoritäten herausfordern kann, wäre es erst dann harmlos, wenn es niemanden gibt, der beansprucht, etwas eher zu wissen als andere, und sie daher anzuleiten berechtigt ist. Das ist aber in keiner Gesellschaft von Menschen der Fall, auch nicht in den offenen Gesellschaften innerhalb demokratischer Ordnungen. Denn auch sie »ordnen« ihre Diskurse, wie Michel Foucault ausführte, mit institutionell verankerten »Ausschließungssystemen« und unterhalten Instanzen zur »Gedankenkontrolle«, wie Noam Chomsky zeigte.

      Für offene, demokratisch verfasste Gesellschaften stellt sich in besonderer Weise die Herausforderung, Selbstdenken mit Stabilitätsinteressen oder auch Idealen der Expertise in Einklang zu bringen. Das wussten auch die Aufklärer*innen. So hat Kant in seiner Schrift »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung« (1784) die Sorge, wenn alle mündig sein wollten, wäre dies das Ende allen Gehorsams, dadurch abzufedern versucht, dass er streng zwischen privatem und öffentlichem Vernunftgebrauch unterschied. Ein Beamter mag als Staatsbürger öffentlich selbstdenken, so viel er will, in seiner Amtsfunktion aber »ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonieren; sondern man muss gehorchen«.11

      Während der Wahlspruch der Aufklärung, das Sapere aude!, in erster Linie von Gelehrten eingefordert wurde, die unter Bedingungen der Zensur arbeiteten und um sich herum nur lähmende Unmündigkeit in meist monarchisch regierten Systemen erblickten, stehen gegenwärtige westliche Gesellschaften unter anderen Bedingungen – und vor anderen Herausforderungen. In demokratischen Gemeinwesen ist die Erlaubnis zum Selbstdenken grundsätzlich bzw. der Theorie nach universalisiert: Jeder darf