dank der globalen Verbreitung und Zugänglichmachung von Informationen und Meinungen unermesslich gewachsen. Doch gerade die Komplexität der fortgeschrittenen Moderne überwältigt viele Menschen, selbst die »Gebildeten« unter ihnen.
Epistemische Autoritäten haben dadurch weiterhin eine entscheidende Orientierungsfunktion, allen voran die modernen Wissenschaften. Hervorgegangen aus der Kritik der Tradition bzw. der deduktiven Methode in der frühen Neuzeit, haben sie die Religion in westlichen Ländern als Wissens-Autoritäten weitgehend abgelöst. Wer heute etwas über den Kosmos erfahren möchte, schlägt nicht in der Bibel nach, sondern konsultiert Rutherford, Einstein oder Schrödinger. Auch ist nicht mehr das Buch Genesis die Quelle unseres Wissens von den Ursprüngen der Menschheit, sondern die Paläogenetik. Und wer die Annehmlichkeiten der modernen Medizin genießt, ist keinen Psalmen zu Dank verpflichtet, sondern Forschern wie Röntgen, Landsteiner oder Fleming.
Die Ersetzung einer epistemischen Autorität durch eine andere ändert jedoch grundsätzlich nichts am tendentiell subversiven Charakter des Selbstdenkens. Auch dann nicht, wenn dieses, wie im Fall der modernen Wissenschaften, den neuen epistemischen Autoritäten methodisch selbst eingeschrieben ist. Epistemische Autoritäten, seien sie religiös oder säkular, sind untrennbar verknüpft mit Idealen der Expertise, das heißt der Unterscheidung zwischen kompetenten und nicht-kompetenten Urteilen. Man frage sich nur selbst: Will man von einem eher kompetenten Zahnarzt behandelt werden oder von einem weniger kompetenten? Wenn Ersteres, dann wären epistemische Autoritäten, die diese Differenz garantieren, vor universalisiertem oder exzessivem Selbstdenken zu schützen. Das zumindest wird nahegelegt in Klagen über gesellschaftliche Tendenzen, wissenschaftliche Ergebnisse zu ignorieren und auf ›alternative Fakten‹ zurückzugreifen oder etablierten Medien das Vertrauen zu entziehen – weil man »kritisch« denkt. Manche sprechen angesichts scheinbar außer Kontrolle geratener Begierden, sich sein jeweils eigenes Bild der Welt zu zimmern, vom »Tod der Expertise« oder gar von einem »Nach-der-Wahrheit«-Zeitalter (post-truth).12 Einem Exzess des Selbstdenkens auf Kosten des gemeinschaftlichen Erörterns und Diskutierens wird zudem heute eine Mitschuld am Auseinanderdriften von Weltbild-Gemeinschaften (sogenannten »Blasen«, die abgeschottet nur noch ihnen genehme Informationen zur Kenntnis nehmen) zugeschrieben. Nicht Fremddenken, sondern exzessives Selbstdenken sei das Problem unserer Zeit, so die Einschätzung des Juristen Markus Kotzur: Heute sei die Mehrheit »rebellisch und aufsässig gesinnt, notorisch misstrauisch gegenüber allem, was sie vorgesetzt bekommt«.13
Damit stehen wir vor einem Paradox, das erst dann so richtig sichtbar wird, wenn wir Selbstdenken nicht nur in seiner produktiven Dimension (es werden neue Erkenntnisse generiert und Irrtümer benannt), sondern zugleich in seiner destruktiven Dimension (es werden Erkenntnisse ignoriert und Irrtümer verbreitet) ernst nehmen: Selbstdenken ist Segen und Fluch zugleich. Wir brauchen selbstdenkende Menschen, um den Prozess der Aufklärung weiterzuführen – und offenzuhalten. Denn keine Generation, das betonte auch Kant, darf einer nachfolgenden Generation verbieten, »in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur«.14 Aber wir können auch nicht den Stachel, der immer schon im Selbstdenken sitzt, ausblenden, denn auch (eher) aufgeklärte Gesellschaften benötigen Kategorien der Kompetenz und Kennerschaft, die mit dem Ideal universalen Selbstdenkens in einem Spannungsverhältnis stehen.
Diese Ambivalenz spiegelt sich in zahlreichen gegenwärtigen Diskursen: Sollen Menschen nicht alles glauben, was in der Zeitung steht, oder Medien bitte doch vertrauen? Sollen Menschen auf die Wissenschaft hören oder dürfen sie zweifeln? Sie sollen kritisch sein, aber bitte den ›Richtigen‹ gegenüber. Sie sollen denken, aber bitte nicht alles. Sie sollen … ja, was eigentlich?
Selbstdenken – aber richtig
Grund genug, einen Schritt zurückzugehen und zu fragen, was Selbstdenken überhaupt ist oder sein kann. Dabei bemerken wir rasch, dass die theoretische Gegenüberstellung von autonomem (d. h. sich selbst die Regeln gebendem) Denken und heteronomem (d. h. von anderen die Regeln übernehmendem) Denken in der Praxis nicht immer aufgeht. Da ist zunächst die Frage, wer entscheiden darf, was Selbstdenken ist und was nicht. Vorwürfe, andere seien indoktriniert, vorurteilsbeladen und dergleichen sind Standardvorhaltungen in fast allen Debatten. Und sie wirken in alle Richtungen, weshalb sie zur Entscheidung von Streitfragen wenig taugen. Und provokant gefragt: Was ist eigentlich so schlimm, sich in manchen Angelegenheiten des (Sach-)Verstandes anderer Personen – oder auch Algorithmen – zu bedienen? Was ist verwerflich an der Bequemlichkeit, sich bei der Suche nach einem bestimmten Ort in einer Großstadt nicht des eigenen Verstandes zu bedienen, sondern des fremden ›Verstandes‹ eines Navigationssystems? Darf man nicht auch beides, selbst- und fremddenken?
Noch schwerer freilich ist der Unterschied zwischen Selbst- und Fremddenken in phänomenologischer Hinsicht aufrechtzuerhalten: Wenn wir als ›unbeschriebenes Blatt‹, als tabula rasa geboren sind, also empirische Informationen immer erst sammeln müssen und sie zu verknüpfen und zu deuten erst mühevoll an der Hand anderer erlernen: Welches Selbstdenken ist dann wirklich ein Selbst-Denken? Als soziale Wesen entwickeln wir uns innerhalb von Kulturen des Denkens, sind umgeben von Beispielen und Vorbildern, gewöhnen uns an das, was wir kennen, und imitieren unwillkürlich, was wir sehen. Kurz: Das ›Selbst‹ im Denken sind immer auch die anderen. Was aber soll dann Selbstdenken bedeuten?
Anstatt den Wert und das Erstrebenswerte im Selbstdenken in seiner Entfernung vom Fremddenken zu suchen – die oft kürzer ausfällt, als wir uns eingestehen –, ist es hilfreicher, ›echtes‹ Selbstdenken gerade auch als selbst-reflexives Denken aufzufassen. Damit ist gemeint, dass es nicht ausreicht, einfach seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, selbst Schlüsse zu ziehen und Urteile zu bilden, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, was dieser Verstand leisten kann, wie er etwas vollbringt und nicht zuletzt, worin er begrenzt ist. Selbst-reflexives Denken ist kritisches Denken, das in alle Richtungen hin ausstrahlt und sich damit auch auf die eigene Urteilsfähigkeit bezieht. Die klassische Frage der Philosophie »Was kann ich wissen?« gewinnt in einer zunehmend auch für Sachverständige unübersichtlichen Welt radikal an Bedeutung. Durch die Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen und der entsprechenden Verinselung von Expertise ist niemand kompetent in allen Fragen, kann es auch nicht sein. Da wir zwangsläufig darauf angewiesen sind, in vielen Bereichen unseres Lebens Menschen zu vertrauen, die kompetenter sind als wir, werden wir uns immer wieder eingestehen müssen, dass wir nur sehr eingeschränkt Wissen selbst erwerben und es vielmehr meist aus einer Kette von Händen erhalten.
Die entscheidende Frage lautet dann nicht mehr: Kann ich mir in einer Sachfrage selbst ein Urteil bilden – selten oder nur mit enormem Aufwand –, sondern: Wie kann ich mir darüber ein Urteil bilden, wie diejenigen ihre Urteile bilden, auf deren Expertise ich angewiesen bin bzw. denen ich Vertrauen schenken möchte? Fragen, die man sich stellen sollte, sind: Was sind die Methoden, mit deren Hilfe sie ihre vermeintlichen Erkenntnisse gewinnen? Was könnten ihre außerwissenschaftlichen Interessen sein oder in welchen Abhängigkeiten stehen sie? Wie steht es um das ›professionelle Standing‹ der vermeintlichen Fachleute, also wie wird ihre Kompetenz von der Kollegenschaft eingeschätzt? Nichtsdestotrotz sind die Grenzen eines solchen Selbstprüfens allzu offensichtlich: Auch preisgekrönte Journalisten können Schwindler sein, Spitzenforscher sich grob irren oder auch nur fehlerhaft arbeiten. So gilt dann auch: Keine dieser Fragen garantiert, zu einem sicheren Urteil über die Vertrauenswürdigkeit von Expertisen zu gelangen. Doch nur der blinde Glaube hält es für entbehrlich, sie überhaupt erst zu stellen.
Selbst-reflexives Denken kann nicht als Haltung eingeübt werden ohne gesellschaftlich-institutionelle Gelingensbedingungen. Dazu zählt ein möglichst freier, öffentlicher Diskursraum, in dem Ansichten sich begegnen und im besten Fall gegenseitig korrigieren können. Nur wer gelegentlich Widerspruch erfährt, der den eigenen Standpunkt in Frage stellt und verunsichert, kann lernen, auch sich selbst zu hinterfragen. Eine unersetzbare Verantwortung für Bedingungen des richtigen Selbstdenkens kommt auch Bildungseinrichtungen zu. Jede Rede von der (digitalen) Wissensgesellschaft ist eitel, solange zwar wissenschaftliche (Zwischen-)Erkenntnisse gelehrt werden, nicht aber vermittelt wird, was wissenschaftliche Methodik, ja überhaupt wissenschaftliches Denken ist. Dort, wo die Ansicht vorherrscht, Informationen würde man sich erst