er bekommen, was er sich gewünscht hat. Freilich habe ich es mir anders vorgestellt mit ihm, aber ich habe es ihn doch nicht spüren lassen. Auch nicht, wenn er schlechte Noten geschrieben hat. Ich hab’ immer gedacht, das ist mein Sohn, auf den ich mich so gefreut habe. Sei mir nicht böse, meine Liebe, wenn ich ihn so wichtig genommen habe wie nichts sonst. Du bist so tapfer, Lucy, das hätte ich nie geglaubt.«
»Wir können jetzt nur beten, Erwin«, sagte sie leise. »Reib dich nicht auf. Mach dir nicht so viele Vorwürfe. Wir werden schon noch erfahren, warum er das Rad genommen hat. Den Leuten kommt es doch nur darauf an, daß sie es ersetzt bekommen.«
»Sie wollen uns an den Kragen, Lucy, das ist schlimm für mich, vielleicht auch für meine Stellung. Ich habe ja nicht nur an den Buben zu denken, auch an euch.«
»Darum mach dir jetzt keine Gedanken. Wir halten zusammen.« Sie strich ihm über das ergraute Haar. »Wir haben dreiundzwanzig Jahre zusammengehalten«, sagte sie. »Schau, Erwin, Frau Schindelbeck ist auch eine anständige Frau. Sie hat es nicht so gut getroffen wie ich. Fleißig und ehrlich war sie immer, aber an ihrer Familie hat sie keine Freude gehabt.«
»Aber daß sich unser Achim mit dem Jungen zusammengetan hat, will mir nicht in den Schädel hinein, Lucy. Warum nur, warum?«
»Der war halt so ein Kraftmeier, und allesamt waren sie in einem dummen Alter. Aber die, die weggelaufen sind, als es passiert war, sind auch nicht viel besser. Von denen hat keiner was getan, um Hilfe zu holen. Nur gut, daß Dr. Norden gleich zur Stelle war. Der Chefarzt im Krankenhaus hat auch gesagt, daß wir es in erster Linie ihm zu verdanken haben, wenn Achim am Leben bleibt.«
*
Das war Daniel von Dr. Reichert, dem Chefarzt, auch schon gesagt worden, als er sich bei ihm nach Achims Befinden erkundigte, was ihm nicht nur Pflicht war, sondern ein Anliegen. Schließlich handelte es sich um ein Kind, mochte es auch schon allerhand angerichtet haben.
So viele junge Menschen waren schon deshalb vollends unter die Räder gekommen, weil man kleine Schandtaten in Bausch und Bogen verurteilt hatte. Wie groß war die Verführung, manchmal war es auch der Wunsch, nicht abseits zu stehen. Man konnte einen jungen Menschen erst dann richtig beurteilen, wenn man die Gründe erforscht hatte, die ihn auf Abwege getrieben hatten. Dr. Norden hatte es schon oft erlebt, daß aus einem Nichtsnutz ein arbeitsamer und verantwortungsbewußter Mensch geworden war, wenn er zur rechten Zeit die richtige Hilfe bekam.
Er hatte es sich nie leichtgemacht, wenn es um Kinder ging. Bei den erwachsenen Patienten konnte man es eher beurteilen, wie sie selbst zum Leben und zur Umwelt standen. Aber bei Kindern?
Achim Rogner hatte Nöte nie kennengelernt. Seine Eltern führten eine harmonische Ehe, seine Schwestern waren gescheite Mädchen.
Ihm war das Lernen nicht so leichtgefallen wie ihnen, aber sein Vater hatte das vorausgesetzt. Dieses Bild hatte sich Dr. Norden schon von der Kindheit Achims gemacht.
Mehr noch hatte er dann von Frau Rogner erfahren. Achims Schulfreunde waren allesamt aufs Gymnasium gegangen, sie hatten es geschafft, er nicht. Warum nicht? mochte er sich überlegt haben. Und so hatte er dann versucht, sich auf andere Weise zu beweisen. So wie es Sepp getan hatte, vor dem alle Furcht hatten.
»Weißt du, was ich mir denke, Fee?« fragte Daniel.
»Und?« fragte sie zurück.
»Ich denke über Achim nach. Was in dem Jungen vor sich gegangen sein mag.«
»Ich habe ebenfalls darüber nachgedacht«, sagte Fee. »Schließlich werden unsere Söhne auch heranwachsen und vielleicht in schlechte Gesellschaft geraten.«
»Sie werden hoffentlich immer wissen, daß wir zu jeder Zeit für sie da sind«, sagte Daniel. »Sie können mit uns über alles reden. Und wir werden niemals ein Kind bevorzugen.«
»Wissen wir das so genau, Daniel? Wir wollen es doch lieber ganz realistisch betrachten. Wie kann es denn geschehen, daß Kinder aus völlig normalen, harmonischen Familien Terroristen werden?«
»Das wird mir immer unbegreiflich bleiben, Fee. Aber uns…«
Fee schaute ihn nachdenklich an. »Du wolltest sagen, daß uns das nicht passieren kann? Woher wollen wir das wissen? Wir können für unsere Kinder nur das Beste wollen und das Bestmögliche tun, aber eines Tages sind sie erwachsen, und wir haben keinen Einfluß mehr auf sie. Ich möchte es nicht denken, aber ich muß es denken in dieser Zeit.
Und was wissen wir schon, was in zehn, zwanzig Jahren sein wird, wie dann die Welt ausschauen wird? Ich habe auch über Achim nachgedacht. Er hatte alles – einen Vater, der ihm jeden Wunsch erfüllte, eine fürsorgliche Mutter, ein schönes Heim, jeden Tag gutes Essen. Und dann kam er mit Jungs zusammen, die all dies nicht hatten, und denen fühlte er sich unterlegen. Von dem Standpunkt muß man es doch auch betrachten, Daniel. Da war Sepp, das Kind eines Trinkers, der es zu nichts gebracht hat. Aber Sepp konnte andere tyrannisieren. Er gab den Ton an. Frau Schindelbeck hatte im Grunde Angst vor ihm, manche Mütter haben Angst vor ihren Kindern. Die arme Frau hatte doch auch keinen Menschen, mit dem sie reden konnte. Sie wurde gemieden. Sie war nur dazu gut, Arbeiten für andere zu verrichten. Mehr war sie nicht wert, nicht in den Augen unserer Wohlstandsgesellschaft. Wo und wann hat sie schon mal ein freundliches Wort gehört?«
»Auf der Insel wird sie es hören, Fee«, sagte Daniel.
»Wenn es nicht schon zu spät ist.«
»Es ist nie zu spät, mein Liebes. Es wird auch für Achim nicht zu spät sein.«
»Wenn er wieder gesund wird. Aber wenn er nun gelähmt bleibt, oder wenn sein Gehirn nicht mehr funktioniert? Vielleicht zerbricht die ganze Familie daran, eine intakte Familie.«
»Eine scheinbar intakte Familie, Fee«, sagte Daniel nachdenklich. »Ob Herr Rogner wohl jemals so offen mit seiner Frau gesprochen hat, wie wir beide miteinander reden können? Ich möchte es bezweifeln. Er wollte vorwärtskommen. Sein Besitzstreben ist nur ein Faktor.«
»Aber er hat erst ein eigenes Haus gebaut, als er genügend Geld hatte und keine Belastungen auf seine Familie zurückfallen konnten.«
»Okay, er ist solide und strebsam. Er hat sich in diese Position hinaufgearbeitet und gut für seine Familie gesorgt. Es wäre schlimm, wenn seine Familie an einem Schicksalsschlag zerbrechen würde. Freilich wird es ihm unter die Haut gehen, daß nun auch noch geklatscht wird.«
»Man wird sich beruhigen. Es gibt interessantere Dinge. Wann fährt Frau Schindelbeck zur Insel?«
»Gleich nach der Beerdigung. Ich werde schon dafür sorgen, daß sie und Karlchen gut hingebracht werden.«
*
Helmut Sommer hatte seine Frau zur Leitner-Klinik gebracht, während Fee sich anschickte, das Entbindungsheim zu besuchen. Sie hatte sich schon ausgedacht, wie sie es anfangen sollte, mit Frau Baumgart ins Gespräch zu kommen. Man kannte sich ja persönlich, wenn auch nur flüchtig. Freilich war in den Kollegenkreisen der näheren Umgebung auch bekannt, daß Dr. Norden, Dr. Behnisch und Dr. Leitner Freunde waren, und manchen war das ein Dorn im Auge, da ihrer Zusammenarbeit allerseits höchstes Lob gespendet wurde.
Idealeres konnte es auch nicht geben, als Ärzte, die Freunde waren und niemals in Konkurrenz traten.
Das Entbindungsheim Dr. Baumgart lebte von Belegärzten. Außer Dr. Kobelka waren es noch drei, die sich die vierzig Betten teilten.
Das Haus war ein alter Bau und schon manches Mal beanstandet worden. Frau Baumgart hatte nicht das Geld, Umbauarbeiten vornehmen zu lassen. Die Ärzte investierten nichts.
Die Lage selbst war erstklassig, und aus der Ferne täuschte man sich über den Zustand des Hauses. Erst wenn man es betrat, wurde es offensichtlich, daß es modernen Ansprüchen nicht mehr genügte.
Schon auf den ersten Blick stellte Fee fest, daß die Türen zu schmal waren, um die Patientinnen gleich im Bett in die Zimmer zu fahren. Die Gänge waren düster, die Holzböden knarrten unter jedem Schritt, die Treppe war gewunden und ausgetreten.
Fee hatte sich