könnte. Warum sollte Sonja nicht auch geholfen werden?
Entschlossen griff sie nach dem Telefonhörer und wählte Dr. Nordens Nummer.
Sie hatte nicht darauf geachtet, daß es schon sechs Uhr war. Loni war bereits gegangen, und er wollte sich gerade auf den Weg zu einigen Hausbesuchen machen.
»Wann könnte ich noch einmal zu Ihnen kommen, Herr Doktor?« fragte Andrea. »Es geht nicht um mich, sondern um meine Schwester. Ich brauche Ihren Rat.«
»Kommen Sie doch gleich morgen früh«, erwiderte er. »Ab acht Uhr bin ich in der Praxis.«
»Ja, dann komme ich ganz früh«, erwiderte Andrea. »Vielen Dank. Es ist so tröstlich, wenn man nicht abgewiesen oder hingehalten wird.«
*
Wie mag es wohl den Menschen zumute sein, die einen Arzt anrufen, weil sie Hilfe brauchen, und denen dann gesagt wird, daß für die nächsten Wochen kein Termin mehr frei ist? dachte Daniel Norden, während er durch die schon abendlichen Straßen fuhr. Überlegen sich die Kollegen eigentlich, was sie damit anrichten können?
Er dachte an Lenni, die neulich so schlimme Zahnschmerzen bekommen hatte, daß sie es kaum noch aushielt. Dr. Köhler war noch nicht von seinem Urlaub zurück. Alle Zahnärzte im Umkreis hatte Lenni angerufen, weil sie mit ihren eigenen Angelegenheiten Fee nicht belästigen wollte. Immer hatte sie die gleiche Antwort bekommen. »Wir sind auf Wochen hinaus ausgebucht.«
Dann hatte sich Fee eingemischt, und plötzlich ging es, als sie den Namen Norden nannte. Sie hatte sich hinterher schrecklich aufgeregt, was selten genug passierte. Und hätte Lenni nicht schnell geholfen werden müssen, wäre sie mit ihr in die Zahnklinik gefahren.
Fee hatte kein Verständnis dafür, daß in einem Notfall nicht ein Patient auch mal bevorzugt behandelt wurde, dessen Namen man nicht kannte.
Daniel hätte sich so etwas nie erlaubt, aber die Zahnärzte, wenigstens sehr viele, nahmen das Privileg für sich in Anspruch, nur auf Voranmeldung zur Verfügung zu stehen und rechtfertigten sich damit, daß sie Zeit brauchten für die einzelnen Patienten.
Daniel nahm sich auch Zeit, auch für diejenigen, die zum ersten Mal zu ihm kamen, auch dann, wenn er von noch Unbekannten spätabends ins Haus gerufen wurde. Und diesmal war es eben jener Zahnarzt gewesen, der Lenni dann doch behandelt hatte. Sein Sohn war die Treppe hinuntergestürzt.
Dr. Fromm empfing Daniel aufgeregt. »Sie waren tatsächlich der einzige Arzt in der Nähe, der zu erreichen war«, sagte er. »Die anderen scheinen ihre Praxis sehr pünktlich zu schließen.«
»Tun Sie das nicht auch?« fragte Daniel. Diesen kleinen Seitenhieb konnte er sich nicht verkneifen, und damit brachte er Dr. Fromm doch in Verlegenheit.
Sein kleiner Sohn hatte sich aber so erheblich verletzt, daß eine längere Debatte nicht angebracht war.
Daniel verstand es, mit Kindern umzugehen. Die Tränen versiegten. Die jammernde Mutter wurde beruhigt. Die zwei Platzwunden wurden geklammert.
»Es war wirklich sehr nett von Ihnen, daß Sie gleich gekommen sind«, sagte Dr. Fromm.
»Das war selbstverständlich.« Daniel sagte es sehr betont.
Vielleicht denkt er nun doch mal nach, dachte Daniel, als er zum nächsten Patienten fuhr. Er hatte an diesem Abend noch ein beträchtliches Pensum zu erledigen. Fee mußte ziemlich lange auf ihren Mann warten.
Sonja auch auf den ihren, und sie wurde immer nervöser. Als er dann endlich kam, überfiel sie ihn mit Vorwürfen. Bernd war auch nicht gerade guter Laune.
»Wenn das so weitergeht, verschwinde ich wieder«, sagte er gereizt. »Man möchte schließlich auch mal seine Ruhe haben.«
»Du bist auch aufgehetzt worden gegen mich«, ereiferte sich Sonja. »Ihr habt euch gegen mich verschworen.«
»Nun bleib mal auf dem Teppich, Sonja«, sagte Bernd ungehalten. »Deine unberechtigten Vorwürfe nehme ich nicht widerspruchslos hin. Ich habe viel Geduld mit dir gehabt, aber diese Hysterie geht mir auf die Nerven. Es wäre wohl das beste, du würdest mal ein paar Wochen Urlaub machen, Tapetenwechsel, damit du dir darüber klar wirst, daß unser Leben so nicht weitergehen kann. Ich habe wahrhaft lange genug den Mund gehalten. Ich habe Verständnis für deinen Kummer gehabt, aber man kann es auch übertreiben. Ich habe genug geschäftliche Sorgen, und…«
»Wieso geschäftliche Sorgen?« fiel sie ihm ins Wort.
»Pietsch ist pleite. Wir werden keinen Pfennig von ihm zu sehen bekommen. Achtzigtausend Mark aufs Verlustkonto, so schnell kann ich das nicht verkraften.«
»Wieso ist Pietsch pleite?« fragte sie fassungslos. »Ich habe doch heute seine Frau in einem neuen Mercedes gesehen und schick angezogen.«
»Sie haben Gütertrennung, liebe Sonja. Man kann manches von solchen Burschen lernen. Auch mit Millionenschulden läßt es sich, wie man sieht, sehr gut leben. Pietsch ist ein Betrüger, um es noch deutlicher zu sagen.«
»Aber dann muß er doch vor Gericht gestellt werden«, sagte Sonja.
»Wenn man ihn hat, meine liebe Sonja, aber er hat sich abgesetzt.«
»Und seine Frau fährt herum und gibt an.«
»Sie sagt, daß sie sich ohnehin scheiden lassen wollte. Aber wahrscheinlich wird es so kommen, daß auch sie in den nächsten Tagen verschwindet, und daß man sich dann in der Schweiz oder irgendwo ein schönes Leben macht mit den ergaunerten Millionen. Man nennt das Wirtschaftskriminalität, Sonja, aber in den Augen mancher ist das nur ein Kavaliersdelikt. An die Geschädigten denkt keiner.«
»Und wie wird sich das auf unser Leben auswirken?« fragte sie.
»Wir müssen halt kürzertreten«, erwiderte Bernd. »Aber du wirst hoffentlich verstehen, daß ich für deine Launen kein Verständnis aufbringen kann. Ich muß rechnen. Ich habe wahrhaftig keine Zeit, mich zu amüsieren, wie du es anscheinend angenommen hast.«
»Bitte, sei nicht böse, Bernd«, sagte sie leise. »Es tut mir leid, daß ich so gereizt war. Aber ich habe mich schon mit Andrea gestritten, und das hat mich aufgeregt.«
»Du hast dich mit Andrea gestritten?« fragte er konsterniert. »Sie soll sich doch erst recht nicht aufregen. Mit deiner übermäßigen Besorgnis hast du es ihr doch wahrhaftig nicht leichtgemacht, die Monate zu überstehen.«
»So siehst du das also auch«, flüsterte sie.
»Ja, es muß einmal gesagt werden, Sonja.«
»Dr. Kobelka ist gestorben«, erklärte sie zusammenhanglos.
Bernd stutzte. »Das wird gut für ihn sein«, murmelte er.
»Wie kannst du so etwas sagen?«
»Nun, immerhin hat er allerhand verbockt. Es waren zwei Verfahren gegen ihn eingeleitet.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Ich wollte es dir nicht sagen, aber ich habe mit Helmut vorhin darüber gesprochen und von ihm erfahren, daß Andrea zu einem anderen Arzt gegangen ist. Hast du das etwa mißbilligt? Ist deswegen der Streit entstanden? Ich kann mich nicht erinnern, daß du jemals mit ihr gestritten hättest.«
»Sie ist so verändert. Sie nimmt die Schwangerschaft plötzlich auf die leichte Schulter.«
»Sie hat sich befreit von diesem entsetzlichen Trauma, das am Ende auch unsere Ehe überschattet, Sonja.
Würdest du dich doch endlich auch davon befreien. Geh auch mal zu Dr. Leitner. Er ist ein sehr vernünftiger Arzt.«
»Ich halte nichts von diesen modernen Methoden«, sagte Sonja. »Ich habe neulich erst wieder gelesen, daß es dem Baby schaden kann, wenn man Fruchtwasser abzieht.«
»Du liest immer nur das Negative. Ein verantwortungsbewußter Arzt tut nichts, was der Frau oder dem Kind schaden könnte, aber diese von dir kritisierten modernen Methoden können für Mutter und Kind lebensrettend sein.