ich habe mir alles anders vorgestellt, das gebe ich zu. Aber nun ergibt es sich so, und vielleicht ist das sogar gut für mich und für uns. Ich wollte eigentlich ins Ausland gehen, mich umschauen in der Welt. Freilich nicht ohne dich. Aber wir hätten dann doch kein richtiges Zuhause gehabt. Oder hätte es dir gefallen?«
»Mitgekommen wäre ich schon«, erwiderte Tini. »Ich will dort sein, wo du bist, Rainer. Aber hier brauchen sie uns doch, deine Eltern und meine Eltern.«
»Das meine ich auch, Tini, und meine Eltern wären sehr froh, wenn du als meine Frau in unser Haus einziehen würdest. Vater wird erst mal eine Kur auf der Insel der Hoffnung machen, und dann werden sie noch ein paar Monate im Allgäu bleiben bei den Großeltern. Vater muß auch damit fertig werden, daß er nicht mehr so schaffen kann wie früher. Meinst du nicht, daß deine Eltern dafür Verständnis haben werden, daß ich dich brauche, Tini? Ich brauche dich wirklich, genauso wie Vater jetzt die Mutter braucht.«
»Ich lasse dich nicht im Stich, Rainer«, beteuerte Tini. »Wir werden es schon schaffen. Aber wenn Achim nun nie mehr gesund wird?«
»Dann werden wir auch das gemeinsam tragen, Tini.«
Sie lehnte sich an ihn. »Ja, dann ist es wohl besser, wenn wir dieses Zimmer gleich für Ulla einrichten. Aber laß mir noch ein paar Tage Zeit, bevor ich mit meinen Eltern spreche. Papa ist nicht ganz da. Für das Haus interessiert er sich überhaupt nicht mehr. Alles, was ihm so wichtig war, ist nebensächlich geworden.«
»Es gibt eben Wichtigeres. Mir geht es auch nicht anders, Tini.«
Als Tini heimkam, war ihre Mutter noch in der Küche. »Ich habe Papa einen Tee gemacht«, sagte sie beinahe verlegen. »Er muß mal wieder richtig schlafen.«
»Du auch, Muttchen«, sagte Tini.
»Möchtest du auch einen Tee, Tini?«
»Gern.« Sie setzte sich. »Der duftet gut«, sagte sie.
»Dr. Norden hat ihn gebracht. Wie geht es Rainers Vater?«
»Er wird bald zur Kur auf die Insel der Hoffnung fahren«, erzählte Tini. »Und dann wollen sie ein paar Monate ins Allgäu gehen. Rainer übernimmt zum ersten Januar den Betrieb. Er möchte, daß wir heiraten.«
Nun war das wenigstens heraus. Tini hätte es bedrückt, wenn sie es nicht wenigstens der Mutter gesagt hätte.
»Schon bald?« fragte Lucy.
»Noch vor Weihnachten. Rainer meint, daß Ulla mein Zimmer bekommen könnte. Ich wollte es eigentlich nicht gleich heute sagen, Muttchen.«
»Aber du würdest einverstanden sein«, sagte Lucy leise.
»Ja, wir brauchen keine große Hochzeit.«
»Wir haben davon geträumt, Tini.«
»Es kommt manches anders, als man es sich vorstellt. Aber ich liebe Rainer. Ich bin glücklich, daß er mich auch liebt. Das ist doch am wichtigsten.«
»Ja, Tini, das ist am wichtigsten. Papa wird euch auch nichts mehr in den Weg legen. Ich möchte doch nur, daß ich meine Kinder behalte.« Sie schluchzte trocken auf, und Tini nahm sie schnell in die Arme.
»Uns verlierst du nicht, Muttchen«, sagte sie innig. »Du bekommst einen lieben Schwiegersohn. Ihm ist es nicht gleichgültig, was aus den Eltern wird. Eigentlich wollte Rainer ins Ausland gehen.«
»Und du wärst mitgegangen, Tini?«
Tini nickte. »Aber darüber brauchen wir uns keine Gedanken mehr zu machen. Rainer wird den Betrieb übernehmen. Wir bleiben uns nahe, Muttchen.«
Ihr junges Gesicht war ganz ernst. Fest umschlossen ihre schmalen Finger die kalten, zitternden Hände ihrer Mutter.
»Leg dich jetzt auch nieder«, sagte sie besorgt. »Es hilft nichts, wenn du dasitzt und dir den Kopf zergrübelst. Morgen ist vielleicht schon alles besser.«
*
Am Morgen des kommenden Tages, um acht Uhr, war Andrea schon bei Dr. Norden. Sie war sogar drei Minuten vor ihm dagewesen, und Loni, die noch pünktlicher war, hatte sie schon ins Sprechzimmer geführt.
Andrea konnte ihr Herz ausschütten, sie fand geneigte und geduldige Ohren bei Dr. Norden.
Sie erzählte von Sonja, von dieser Auseinandersetzung, die ihr nahegegangen war, wenngleich sie sich davon nicht mehr so stark beeinflussen ließ, wie es früher der Fall gewesen wäre.
»Ich habe früher nicht darüber nachgedacht, daß man sich selbst zerstören kann«, sagte Andrea nachdenklich, »aber bei meiner Schwester scheint es der Fall zu sein.«
»Manchmal ist es nicht gut, wenn man zuviel Nachsicht zeigt«, sagte Dr. Norden.
»Ja, das habe ich an mir selbst erfahren«, gab Andrea zu. »Es ist besser, wenn man zurechtgestupst wird. Aber Sonja ist schon seit drei Jahren jede Rücksichtnahme gewohnt. Sie hatte sich doch so sehr auf ihr Baby gefreut.«
»Ich verstehe das«, meinte Dr. Norden. Er wollte Andrea nicht sagen, daß es niemals ein gesundes Kind geworden wäre, wie er nun von Fee wußte. Er konnte auch Dr. Kobelka nichts mehr nachtragen. Zumindest in diesem Fall war ihm keine Schuld beizumessen, und sein Schweigen hatte ihm wohl auch selbst zu schaffen gemacht.
Andrea konnte er nur den Rat geben, Sonja nicht zu grollen und zu versuchen, ihr gut zuzureden. Er konnte ja nicht zu Sonja gehen und dies selbst tun.
»Sie meinen, daß ich energisch sein müßte?« fragte Andrea.
»Zumindest sollten Sie standhaft bleiben und vielleicht mit Ihrem Schwager sprechen, daß er sich auch nicht mehr zu nachgiebig zeigt. Zwingen kann man keinen Menschen, Frau Sommer. Sie können Ihre Schwester nicht im Schlepptau zu Dr. Leitner bringen. Immerhin freut es mich, daß Sie sich gefangen haben.«
»Es wurde wohl höchste Zeit«, sagte Andrea errötend. »Ich glaube, bei meinem Mann war auch die Grenze der Geduld erreicht. Aber vielleicht ist sie bei Bernd schon überschritten.«
»Packen Sie den Stier bei den Hörnern, Frau Sommer. Sprechen Sie auch mit Ihrem Schwager. Wie es scheint, ist lange genug um den heißen Brei herumgeredet worden.«
»Ja, Herr Doktor«, sagte Andrea. »Wir haben Ihnen sehr viel zu verdanken.«
*
Das dachte auch Frau Schindelbeck, als sie an dem bescheidenen Grab ihres Sohnes stand. Nur Karlchen war bei ihr. Ihr Mann war wieder mal betrunken nach Hause gekommen. Gustl, der ältere Sohn, hatte gesagt, daß ihn keine zehn Pferde auf den Friedhof bringen könnten, und die Tochter hatte sie schon seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen.
Sie hielt Karlchens Hand. »Jetzt fahren wir fort, Karlchen«, flüsterte sie, als der Kleine unruhig von einem Bein auf das andere trat.
»Und der Sepp kommt nimmer, Mutti?« fragte Karlchen.
»Nein, er kommt nimmer«, erwiderte sie unsagbar müde.
Und dann gingen sie vom Friedhof. Draußen wartete der Mietwagen, den Dr. Norden bestellt hatte, der sie auch zur Insel der Hoffnung bringen sollte. Ein alter Koffer, der mit Bindfaden verschnürt war, lag schon darin. Viel hatte sie nicht mitzunehmen. Nur zurück wollte sie nicht mehr.
Gustav wird seinen Rausch ausschlafen und dann die Wut kriegen, wenn wir nicht mehr da sind, dachte sie. Er wird zerschlagen, was noch zu zerschlagen ist. Aber in ihr hatte er sowieso schon alles zerstört. Sie dachte nur noch an den Kleinen, der neben ihr saß und ihre Hand nicht losließ.
»Es ist bestimmt schön dort, wo wir hinfahren«, sagte Karlchen.
»Ja, es ist schön, mein Kleiner«, murmelte sie, obgleich sie sich gar nicht vorstellen konnte, daß ein Paradies sie erwartete, von dem sie nie zu träumen gewagt hätte.
*
»Frau Schindelbeck und Karlchen sind gut angekommen«, empfing Fee Norden ihren Mann. »Anne war sehr gerührt. Diese armen Menschen müssen sich ja im Himmel wähnen.«