Sandra Schneeberger

Handeln mit Dichtung


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als auch die einzige vorkommende Hand hin. Die verschiedenen Bestandteile, die uns heute noch vorliegen, sind absichtlich zusammengestellt worden. Aufgrund der Überlieferungsgeschichte fehlen einzelne Seiten oder Teile sind nicht mehr lesbar, zusätzlich wurden auch spätere Papierseiten eingefügt. Dennoch scheint die Handschrift als solche als Gesamtheit verstanden werden zu wollen.5

      Aber auch über die Inhalte lässt sich die planerische Zusammengehörigkeit fassen. Jürg Glauser sieht diese in U durchaus gegeben:

      Der Codex Upsaliensis enthält somit in seiner Gesamtheit als Anthologie Aussagen zu den zentralen Aspekten der altnordischen Dichtung. Über Themen und Stoffe wird in den theologischen und mythographischen Abschnitten des Prologs und in Gylfaginning gehandelt, formale Phänomene wie Metrik, Rhetorik, Poetik sind ausführlich in den Skáldskaparmál theorisiert und im Widmungsgedicht Háttatal exemplifiziert, pragmatische Seiten der Sprache finden ihre Erörterung in der Phonologie des Zweiten Grammatischen Traktates und Literaturgeschichte wird in den Dichterlisten des Skaldatal skizziert. Das Ganze wird in den beiden kurzen Abschnitten Ættertala Sturlunga und Lögsögumannatal schliesslich in einen konkreten isländischen soziokulturellen Kontext gestellt.6

      Als Ausgangspunkt der Lektüren dient in dieser Arbeit die Edition von Codex Upsaliensis von Heimir Pálsson aus dem Jahr 2012, die einen wichtigen Beitrag für die neuere Edda-Forschung darstellt. Pálsson bleibt so nahe wie möglich am Text von U und interpoliert nur in den Fussnoten.7 Pálsson begründet seine Edition auf der Faksimile-Ausgabe von Anders Grape. Das zweibändige Werk mit Transkription, paläographischem Kommentar und einer ausführlichen Einleitung ist – gemeinsam mit der digitalen Web-Version der Bibliothek von Uppsala – auch für diese Arbeit von grossem Wert.8 Für den Vergleich der verschiedenen Handschriftentexte von RTW bleiben die drei Bände der Edda Snorra Sturlusonar aus dem 19. Jahrhundertweiterhin sehr hilfreich.9 Vertiefende Einblicke in die Gestaltung von U bieten die jeweiligen Lektürekapitel.

      1.3.2 Weitere handschriftliche Überlieferung

      Die Prosa-Edda ist in zwei weiteren mittelalterlichen Handschriften überliefert: Codex Regius (GKS 2367 4to, von nun an R) wird auf ca. 1300–25 datiert und auf Grund des gut erhaltenen Zustands häufig als Grundlage für Editionen oder Übersetzungen genommen.1 Zusätzlich zu den kanonischen Texten sind in R eine Liste mit sog. Þulur sowie zwei skaldische Gedichte (Jómsvíkingadrápa und Málsháttakvæði) überliefert.2

      Codex Wormianus (AM 242 fol., von nun an W) ist in Bezug auf die Handschriftengrösse und den Inhalt die grösste Version der Prosa-Edda. W stammt ca. von 1350 und umfasst neben den kanonischen Texten der Edda vier grammatische Traktate. Der sog. 2. Grammatische Traktat ist auch in U zu finden, die Versionen unterscheiden sich allerdings im Text und nur in U sind zwei Diagramme, die den Text zu erklären helfen, eingefügt.3 W enthält zudem das eddische Gedicht Rígsþula sowie eine fragmentarische Liste von ókent heiti.4 Zusätzlich sind mehrere Fragmente von Skáldskaparmál überliefert, die je nach Version einmal eher mit R oder dann mit W verbunden gedacht werden.5

      1.4 Aufbau der Arbeit

      Dieser Einleitung folgt eine Hinführung auf die theoretische Perspektive, unter der die Lektüren der Prosa-Edda vorgenommen werden (2. Kapitel). Der dafür zentrale Begriff der literarischen Performativität wird mithilfe eines Überblicks über das Performative und seine rhizomatischen Ausformungen in verschiedensten Disziplinen erarbeitet. Darauf folgen zwei Hauptkapitel, in denen ausgewählte Stellen der Prosa-Edda vertieft beleuchtet werden. Das erste der beiden Lektürekapitel widmet sich den erzählenden Teilen des Werks, die sich mit der Frage nach dem Sinnstiftungspotenzial von verschiedenen Narrativen beschäftigen (3. Kapitel). Die Reflexion der eigenen Arbeit am Mythos wird in diesen Teilen ebenso thematisiert wie die adäquate mediale Vermittlung von genealogischen Wissensbeständen. Das nächste Lektürekapitel beschäftigt sich mit den verschiedensten sprachtheoretischen Aspekten innerhalb der sprachgelehrten Teile der P-E (4. Kapitel). Anders als den erzählenden Teilen geht es diesen Texten nicht darum, die „Welt“ sprachlich zu fassen, sondern darum, die Sprache als Grundlage einer jeden sprachlichen Gestaltung der Welt in all ihren Facetten zu begreifen.

      Die Kapitel enden jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung. Zum Schluss werden die gesamten Beobachtungen zusammengefasst und ein Fazit gezogen (5. Kapitel). Dabei werden auch die während der Arbeit aufgetretenen Schwierigkeiten thematisiert sowie in einem Ausblick auf mögliche weiterführende Fragen verwiesen.

      2 Literarische Performativität

      2.1 „Performative – an ugly word“

      Dieses Kapitel bildet die theoretische Grundlage für die vorliegende Arbeit. Dabei steht der Diskurs des Performativen resp. der Performativität im Fokus. Mit einem solchen Fokus wird eine Lektüre der Prosa-Edda vorgeschlagen, die ein neues Licht auf dieses so bekannte Werk des nordischen Mittelalters werfen soll. Für ein Werk, das sich auf so komplexe Weise mit den Möglichkeiten und Grenzen von Sprache und Literatur befasst, kann ein theoretischer Zugang, der sich mit der Macht von Sprache beschäftigt, neue Einsichten ermöglichen. Inwiefern der Performativitätsdiskurs einer erneuten Lektüre der P-E dienen kann, wird im Folgenden beleuchtet.

      Bereits lange vor dem in den 1990er Jahren propagierten performative turn ist der Begriff der Performativität in vielen verschiedenen Disziplinen zu finden. Schon seit ca. 1950 wird über Performanz, das Performative oder eben die Performativität diskutiert. Dementsprechend vielfältig sind die Definitionen und Gebrauchsfelder der Begriffe. Als erste Annäherung soll an dieser Stelle die Definition von Jillian Cavanaugh dienen: „Performativity is the power of language to effect change in the world: language does not simply describe the world but may instead (or also) function as a form of social action.“1 Sprache wird hier die Fähigkeit zugeschrieben, die Wirklichkeit zu verändern und nicht nur der reinen Beschreibung der Welt zu dienen.

      Der Ausgangspunkt des Performativitätsdiskurses liegt in der Sprachphilosophie. John L. Austin versucht Mitte des 20. Jahrhunderts, eine spezifische Kategorie sprachlicher Äusserungen zu fassen und benennt sie mit dem, wie er sagt, hässlichen Wort performative.2 Der substantivierte Begriff der Performativität kommt erst später in Gebrauch: Ebenfalls in der Sprachphilosophie, allerdings auch in der Linguistik sowie in kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. In den beiden letzteren bezeichnet er den Vollzugscharakter kommunikativer Handlungen und den Inszenierungscharakter sozialer Praktiken.3 Die Begriffe des Performativen und der Performativität unterscheiden sich weiter vom Begriff der Performanz. Es sind z.B. die Theaterwissenschaften, die stärker auf den Begriff Performanz fokussieren, indem sie damit den Aufführungscharakter von Handlungen bezeichnen.

      Die weitläufigen Entwicklungen der verschiedenen Begriffe und Anwendungen werden von mehreren Seiten immer wieder kritisiert: Performativität sei ein modischer umbrella term geworden und trage zu wenig analytische Kraft in sich, heisst es in vielen Einführungen zum Thema. Stellvertretend für derartige Bedenken stehen Joachim Grage und Stephan Michael Schröder:

      Mit den Begriffen Performativität, Performanz, performance hat sich ein inter- bzw. transdisziplinäres Cluster von Begrifflichkeiten entwickelt, deren enge etymologische Verwandtschaft leicht darüber hinwegtäuscht, dass diese Termini in den einzelnen Disziplinen bzw. Problemfeldern durchaus Heterogenes bezeichnen und den inter- bzw. transdisziplinären Dialog zugleich ermöglichen und erschweren.4

      Ähnlich formuliert es Eckhard Schumacher, er weist aber (wie auch Grage/Schröder) darauf hin, dass gerade die Uneindeutigkeiten, die durch die verschiedenen Konzeptverwendungen zustande kommen, häufig als produktiv verstanden werden:

      Einleitungen zu Texten, die sich mit Konzeptionen von Performance oder Performativität auseinandersetzen, sind häufig dadurch gekennzeichnet, dass sie zunächst die verschiedenen, durchaus gegenläufigen Lesarten der Begriffe in Anthropologie, Theaterwissenschaften, Sprachphilosophie, Texttheorien oder Cultural Studies betonten, um diese Gemengelage in weiteren Schritten dann als tendenziell produktive Ausgangsbasis