Sandra Schneeberger

Handeln mit Dichtung


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„Unsere zeitgenössische Kultur lässt sich als eine Kultur der Inszenierung beschreiben oder auch als eine Inszenierung von Kultur. In allen gesellschaftlichen Bereichen wetteifern einzelne und gesellschaftliche Gruppen in der Kunst, sich selbst und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene zu setzen.“12 Parallel zu den Entwicklungen in den Künsten vergleicht Richard Schechner13 in seiner Theater-Anthropologie die dramatische Inszenierung mit derjenigen von Ritualen, womit die Wechselbeziehungen zur Begriffsentwicklung in den Sozialwissenschaften deutlich werden.

      Die Sprachphilosophie und die Künste sind nicht die einzigen Felder, in denen der Begriff des Performativen mit traditionellem Verständnis bricht. Während – wie eben geschildert – die Vorstellung der Welt als Text durch die Vorstellung der Welt als Performance ersetzt wird, verändert sich auch das Verständnis von Kultur und wird in diesem Sinne neu gedacht. Kultur wird nicht mehr als durch Texte (oder andere Artefakte) geschaffen resp. manifestiert angesehen, sondern eben auch durch „Performances“, die eine ebenso konstituierende Funktion für Kultur besitzen.14 Dadurch rücken neue Gegenstände in den Blick der Forschung. Der amerikanische Ethnologe Milton Singer führt den Begriff der cultural performance ein, den er bestimmt als: „particular instances of cultural organization, e.g. weddings, temple festivals, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“15 Nach Singer formuliert eine Kultur in derartigen cultural performances ihr Selbstverständnis und Selbstbild, das sie so vor ihren Mitgliedern und Fremden dar- und ausstellt:

      For the outsider, these can conveniently be taken as the most concrete observable units of the cultural structure, for each performance has a definitely limited time span, a beginning and an end, an organized programme of activity, a set of performers, an audience and a place and occasion of performance.16

      Unter anderem diese offene Definition von performance führt in den 1970er Jahren dazu, dass sich die sozialwissenschaftliche und die theaterwissenschaftliche Forschung annähern.

      Auch der britische Ethnologe Victor Turner beschäftigt sich mit cultural performances, d.h., mit einer bestimmten Art davon. Er untersucht die Parallelen, die das Ritual mit dem Theater hat und definiert das Ritual als Schwelle oder Übergang „zwischen zwei stärker gefestigten Feldern kultureller Aktivität.“17 Die Eigenschaft der Liminalität ist für die Definition der Performativität in verschiedenen Bereichen sehr wichtig geworden18 und wird auch in der altnordischen Mediävistik diskutiert.19 In Singers und Turners Nachfolge entwickelt sich ein breites neues Forschungsfeld, das sich mit je unterschiedlichen Arten von cultural performances auseinandersetzt: Alle kulturellen Praktiken, denen eine bestimmte Aufführungsdimension eigen ist – z.B. Feste und Spiele, aber auch Vorträge oder Filmvorführungen – werden in diesen performance studies in den Blick genommen. Ganz gemäss der eigenen Definition beschäftigen sich die performance studies jedoch nicht nur auf einer Reflexionsebene mit solchen kulturellen Praktiken, sondern auch auf einer ausführenden bzw. selbsttätigen Ebene. Künstlerische und wissenschaftliche Herangehensweise überkreuzen sich.20

      Die Philosophin Judith Butler interessiert sich ebenfalls für die performativen Sprechakte und könnte daher gut auch bei den sprachphilosophischen Theorien genannt werden. Sie dehnt ihren Gebrauch allerdings auch auf nichtsprachliche Akte aus und bringt den Körper, Politik und Gesellschaft in den Blick:

      [Es] zeigt sich, dass die Frage, wie das komplexe Verhältnis von Sprechen und Handeln zu denken ist, immer auch auch ein körperliches Subjekt impliziert, das geschlechtlich und ethnisch kodiert ist und das durch Formen der Anrufung und der Adressierung gleichermassen konstituiert und bedroht wird.21

      Im Rahmen der gender studies analysiert sie „[…] unter Bezugnahme u.a. auf Austin, Turner, Derrida und Jacques Lacan – mit der Kategorie der ‚Performativität‘ die kulturelle Konstitution des sozialen und des biologischen Geschlechts (gender vs. sex).22 Butler untersucht Performativität unter einer diskurstheoretischen Perspektive „als die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkung erzeugt, die er benennt.“23 Damit schliesst sie an demselben Punkt in Austins Theorie an wie Derrida. Allerdings fokussiert sie nicht auf sprachliche Äusserungen, sondern auf körperliche Handlungen:

      Sprechen selbst ist ein körperlicher Akt, der von körperlichen Gesten begleitet, durch diese ersetzt oder konterkariert werden kann. So kann der mit einer performativen Äusserung vollzogene Sprechakt durch die Körpersprache oder begleitende Handlungen unterminiert oder in sein Gegenteil verkehrt werden. Umgekehrt reicht manchmal eine einfache körperliche Geste, um einen wirkungsvollen Sprechakt zu vollziehen. In diesem Sinne markiert der Körper nach Butler „die Grenze der Intentionalität des Sprechaktes“: Als ein grundlegend körperlicher Akt sagt der Sprechakt immer mehr oder sagt es in anderer Weise, als er es sagen will, wobei es nicht nur das Subjekt, sondern auch der Körper ist, der „spricht“.24

      Wie Derrida sieht Butler die Möglichkeit des Misslingens als notwendige Möglichkeit eines jeden Sprechaktes. Sie führt weiter aus, dass gerade dadurch, dass jeder Sprechakt ein körperlicher und damit teils unbewusster Akt ist, sich dieser auch immer einer intentionalen Kontrolle entzieht. Butler interessiert sich für die Gewalt, die mit Sprache ausgeübt werden kann und kommt so in das Feld der politischen Sprache. Auch hier schliesst sie an Derrida an und übernimmt den Begriff der Iterabilität und entwickelt ihn weiter im Hinblick auf seine ethischen und politischen Konsequenzen.25

      Während die sprachphilosophische Strömung der Performanzdiskussion an Fluss verlor, erlebt sie in kulturwissenschaftlicher Ausrichtung seit den 1990er Jahren eine neue Blüte. Die Entwicklungen, welche die Literaturwissenschaft stark mit der Kulturwissenschaft verbunden denken, führen dazu, dass die beiden Disziplinen im Bereich des Performativen eng verknüpft sind. Andreas Hetzel verortet den Aufschwung des Performativen im deutschsprachigen Raum v.a. in dem von der DFG geförderten Sonderforschungsbereich Kulturen des Performativen: „Performativität wird in den entsprechenden Teilprojekten weniger als neues Paradigma beansprucht, denn als offenes Forschungsprogramm, als Konstellation kulturwissenschaftlicher Fragen inhaltlicher und methodologischer Art.“26 Hetzel sieht diese Offenheit als Möglichkeit, sich neueren Kunstformen zu nähern: „Gerade für das Verstehen neuerer Kunst- und Kulturformen erweist sich der performative turn der Kunstwissenschaften dabei als äusserst fruchtbar, scheitern hier doch, wie Fischer-Lichte betont, traditionelle ästhetische Leitunterscheidungen wie die zwischen Werk, Produzent und Rezipient.“27 Dass sich diese Offenheit nicht nur für die Erforschung neuerer Kunstformen als hilfreich erweist, sondern auch bei der Arbeit an vormodernen Kulturphänomenen, zeigt sich in der breiten Annahme des Diskurses.

      Die strikte Trennung in ein „vor“ und „nach“ dem performative turn, wie sie u.a. Fischer-Lichte konstatiert, ist aber nicht sinnvoll.28 Zwar treten mit dem performative turn neue Aspekte von Kultur in den Blick und der bisher vernachlässigte Bereich des Performativen rückt in den Fokus. Aber es ist nicht hilfreich, den bisherigen Textbegriff zugunsten eines Performancebegriffs aufzugeben. Besser ist es, das Performative im Rahmen des Textes zu betrachten. So sagt z.B. André Bucher:

      Denn der Text hat selbst eine eminent performative Dimension, die sich zwar im Konkreten von derjenigen einer künstlerischen Performance unterscheidet, im Prinzipiellen aber keineswegs. Auch ein Roman muss geschrieben und gelesen werden, auch ein Theaterstück inszeniert und die Inszenierung rezipiert, auch ein Gedicht muss vorgetragen oder still im Fauteuil goutiert werden, und ohne diese Vollzüge sind sie nicht.29

      Ein Text existiert nicht ohne Performanz, umgekehrt gibt es keine Performanz ohne Text. Daher lohnt sich die Unterscheidung zwischen einer Kultur des Textes und einer postmodernen Kultur der Performance nicht: „Auch die klassischen Formen der Repräsentation, etwa das aristotelische Drama oder der Entwicklungsroman, sind eminent performativ, sofern sie ihre Inhalte nicht nur bezeichnen oder abbilden, sondern überhaupt erst hervorbringen.“30 Es sollte folglich nicht zwischen dem Text und der Performanz unterschieden werden, sondern zwischen zwei Dimensionen des Textes: Jeder Text hat eine repräsentative und eine performative Dimension. Erstere „qualifiziert den Text hinsichtlich dessen, was er repräsentiert, hinsichtlich der symbolischen Bedeutungen, die er aufgreift aus dem – historisch, topologisch, metaphysisch oder wie auch spezifizierten – Reservoir des Imaginären,