Sandra Schneeberger

Handeln mit Dichtung


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Mit einer performativen Perspektive aber wird klar, dass der Text nicht nur als Hilfe für eine Rekonstruktion dient, sondern er „wirkt der Flüchtigkeit von Aufführungen und Gesten entgegen, indem er sie fixiert und ihr kulturelles Wissen produktiv verarbeitet.“43 Wichtig ist diese Ebene für die Analyse von Re-Inszenierungen von face-to-face-Kommunikationen, Gesten und anderen Körperinszenierungen in Texten. Auf der zweiten Ebene interessiert der vormoderne Text als Material für und von Performance, d.h. erst durch Aufführung wird er zu einem Werk: „Zentral ist dabei die Frage, inwieweit der Text etwa Regieanweisungen oder im aktionistischen Sprechen mit situativen Aktualisierungen kalkuliert, welche durch die von ihm angeregten Formen des Lesens, Vorlesens, Vortragens oder Aufführens entstehen.“44 Auch die Materialität des Textes an sich und wie er in aussertextuellen Inszenierungen thematisiert wird, steht auf dieser Ebene im Vordergrund.

      Für die vorliegende Arbeit wichtiger als die ersten zwei Ebenen sind Veltens dritte und vierte Ebene. Sie wiederspiegeln auf gewisse Weise auch die Kategorisierung von funktionaler und struktureller Performativität. Die dritte Ebene (bzw. im Hinblick auf strukturelle Performativität) befasst sich mit der diskursiven Textebene: „Hier geht es darum, wie Performances in den narrativen oder dramatischen Vollzug integriert und simuliert werden. Dazu zählen sprachliche Inszenierungen, mittels deren der Text tut, wovon er spricht.“45 Auf der vierten Ebene (bzw. im Hinblick auf funktionale Performativität) wird die Erzeugung von aussertextueller Wirkung durch den Text analysiert. Einerseits geht es um die Fähigkeit von Texten, Rezipienten zu affizieren, also Gefühle auszulösen. Weiter gedacht geht es aber auch um die Fähigkeit des Textes Wirklichkeit herzustellen: Adressaten können modelliert werden, Diskurse, Emotionen, soziale Zusammenhänge und Ähnliches können konstituiert oder verändert werden.46 Erst in der Verbindung dieser Ebenen bzw. den in ihnen angelegten Reflexionsmomenten wird das Performative zu einer nützlichen Untersuchungsmethode und ermöglicht neue Zugänge zu vormodernen Texten.

      2.2.4 Skandinavistik

      Zwar sind bereits einige Untersuchungen oder Forschungsprojekte in der Skandinavistik entstanden, die sich mit dem Begriff des Performativen den nordischen Materialien annähern.1 Allerdings verfolgen diese einen anderen theoretischen Ansatz als die vorliegende Arbeit und so finden sich nur in gewissen Bereichen Anknüpfungspunkte, die für diese Arbeit hilfreich sind. Eine vertiefte Behandlung davon findet jeweils in den Lektürekapiteln statt. In indirekter Weise haben sich Skandinavisten schon früh für Aspekte des Performativen interessiert. Die weitreichenden Diskussionen rund um die Herkunft der Sagaliteratur und die Wurzeln der nordischen Dichtung drehen sich unter anderem um die Frage, ob man von einer mündlichen Entstehung bzw. spontanen Aufführung oder von einer schriftlichen Komposition ausgehen muss.2

      Direkter an den Performanzbegriff anknüpfend gibt es einerseits Versuche, die Sprechakttheorie im Sinne Austins an die Sagaliteratur und andere Textgattungen heranzutragen. So werden z.B. die Dichtungsphänomene senna, níð und mannjafnaðr oder auch die Strukturen von Weisheitsdichtung als Sprechakte auf intra- wie extratextueller Ebene untersucht.3 Zu schnell werden dabei jedoch die Eigenheiten einer spezifischen literarischen Performativität übergangen und der Übertrag auf das „reale Leben“ ausserhalb des Textes gesucht. Ein ähnliches Problem ergibt sich auch bei Ansätzen, die sich eher aus einer ritualtheoretischen Perspektive mit dem Performativen befassen. Verschiedene – literarische – Texte werden als „schriftlich erstarrte“ Aufführungen verstanden bzw. auf Spuren vergangener Rituale hin gelesen. Da Texte zu den wenigen erhaltenen Quellen für die skandinavische Mythologie gehören, ist es verständlich, diese auch auf derartige Fragen hin zu untersuchen und es ergeben sich spannende neue Zugänge. Für die vorliegende Arbeit ist eine solche Lektüre jedoch problematisch, da gerade die Mythologie, wie sie in der P-E dargestellt wird, als eine klar für die Schriftlichkeit konzipierte Mythologie verstanden wird. Deshalb steht hier hauptsächlich der Text selbst im Vordergrund.

      Vertieft mit dem Begriff des Performativen (v.a. in Beziehung mit dem Medialen) in der altnordischen Literatur beschäftigt sich Jürg Glauser. Am Beispiel der Sagaliteratur bespricht er beispielsweise die Voraussetzungen für gelungene und misslungene Kommunikationsakte.4 Seine Beobachtungen zu den verschiedenen medialen Umsetzungen und deren Bewertungen in den Texten ebnen den Grund für die vorliegende Arbeit. Glauser weist darauf hin, wie eminent wichtig der Körper für gelungene Kommunikation ist, sei es im mündlichen oder auch im schriftlichen Bereich. In der nordischen Literatur des Mittelalters scheint nur durch den menschlichen Körper eine verlässliche Überlieferung möglich. Die Schrift alleine ist immer korrumpierbar und losgelöst von einem „Medium Körper“ nicht gleich verlässlich wie mit. Die Schrift und mit ihr die Literatur ermöglicht aber auch die Schaffung von neuer Bedeutung, was besonders wichtig ist für eine Erinnerungskultur,5 wie sie die das nordische Mittelalter ist.

      What is especially important in relation to Old Norse literature is the fact that literature may potentially codify diverse versions of the past. Literary texts can accordingly play a prominent role in the founding, recording, transmission, and dissemination of collective memories or myths, but simultaneously the possibility exists for fictional texts to take up alternative versions of the past, the outlines of ‚counter-memories‘.6

      Aber Glauser hebt hervor:

      Norwegian and Icelandic authors of the thirteenth century thought about the roles, potentialities, and limits of communication – about mediality – along much more differentiated lines than the bipolar configuration orality/literacy, as their texts demonstrate, both in the sometimes explicitly literary- and mediatheoretical remarks in the prologues, and implicitly in highly complex narratives […].7

      Für die P-E versucht die vorliegende Arbeit diese differenzierten Linien aufzuzeigen. Im theoretischen Verständnis ebenfalls sehr eng verbunden ist diese Arbeit mit derjenigen von Lukas Rösli.8 Rösli kombiniert den Begriff des Performativen mit demjenigen des Raums und macht so beide für narratologische Analysen brauchbar. Vor allem sein Fokus auf die performative Setzung von Anfängen und Enden in der nordischen Mythologie zeigt neue Wege für die Edda-Lektüre auf.

      Auch in der neueren skandinavistischen Literaturwissenschaft gibt es Arbeiten, die sich mit dem Performativen beschäftigen. Als Beispiel sei hier das DFG-Projekt „Literarische Praktiken in Skandinavien um 1900“ erwähnt, das sich allerdings von einem reinen Performativitätsbegriff absetzt und ihn mit einem praxeologischen Ansatz ersetzt.9

      2.2.5 Performativität und Rhetorik – eine Abgrenzung

      Wie meist bei der Arbeit mit neuen Theorie- und Methodenansätzen stellt sich die Frage nach dem Gewinn, der mit ihrer Anwendung zu erwarten ist. Zwar ist ein performativitätsgeleiteter Ansatz in der Mediävistik nicht mehr wirklich neu, doch gerade in der Skandinavistik gibt es noch nicht übermässig viele Arbeiten dazu. Es ist daher zu prüfen, was genau diesen Ansatz für die skandinavistische Mediävistik produktiv macht und wie ältere Forschung darin integriert und weitergeführt werden kann. Es sollte für jede Untersuchung neu entschieden werden, wo die Unterschiede zu etablierten Theorien sind und ob diese allenfalls bessere Analysewerkzeuge darstellen.

      Dass Texte (oder allgemeiner: Sprache) vielfältig auf die aussertextuelle Welt einwirken und sie auch verändern können, ist nicht erst seit dem Nachdenken über das Performative bekannt. Bereits antike Poetiken weisen auf die „kulturstiftende Potenz der Dichtung“1 hin. Um die wirklichkeitsverändernde Macht von Sprachhandlungen geht es zu einem grossen Teil auch in der antiken Rhetorik. Andreas Hetzel betont denn auch die Herkunft des Performativitätsdiskurses aus der klassischen Rhetorik:

      Obwohl genuin moderne Begriffe, betonen ‚Performativität‘ und ‚Performanz‘ einen Grundzug des Redeverständnisses der klassischen Rhetorik. Der λόγος gilt den antiken Rhetorikern wesentlich als wirkender Vollzug; er verändert Einstellungen und Situationen, insofern ist er eine wirksame Praxis. Weite Teile des klassisch-rhetorischen Sprachdenkens antizipieren die zeitgenössischen Theorien des Performativen und der Performanz, die sich ihrer rhetorischen Vorgeschichte selten bewusst sind.2

      Hetzel zeichnet die Vorgeschichte des Begriffs nach und vermutet, sie reiche so weit zurück, wie die menschliche Reflexion