Sandra Schneeberger

Handeln mit Dichtung


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neue textuelle Dimensionen durch die performativ orientierten Lektüren – so unterschiedlich die einzelnen Beiträge diese Lektüre auch gestalten. Derartige neue Textdimensionen sind aufgrund des performative turns möglich und nötig, wie Herberichs/Kiening im Vorwort bestimmen:

      Der vorliegende Band greift eine Blickwendung auf, die sich in den Kulturwissenschaften der letzten Jahre vollzogen hat: eine Abwendung von der Ermittlung fixierter, stabiler Bedeutungen und eine Hinwendung zur Betrachtung der Dynamiken, mit denen Kulturen Sinn erzeugen – durch Verhandlungen und Verheissungen, mediale Aufladungen und Selbstüberschreitungen.2

      Diese Blickwendung auf das „Ereignishafte“ und „Wirklichkeitskonstituierende“ kultureller Phänomene erfordere neue Analysearten. Ebenfalls zentral sei, dass die genannten Phänomene nicht nur charakteristisch für die rein performativen Künste sind, sondern eben auch für literarische Texte:

      Literatur ermöglicht die Teilhabe der Lesenden und erfordert sie zugleich. Sie schafft Tatsachen und verändert die Wirklichkeit. Sie stimuliert Reflexionsprozesse und Handlungsvollzüge. Sie gewinnt ihre spezifische Medialität gerade dadurch, dass sie die Vermitteltheit dessen, das sie darstellt, aufscheinen lässt.3

      Anders als viele Forscher, die sich negativ über die Breite des Begriffs des Performativen äussern, sehen Herberichs/Kiening den Reiz gerade darin, ein Schnittfeld zwischen all diesen Diskursen zu suchen – das Schnittfeld zwischen dem, was in Kommunikation, und dem, was mit Kommunikation geschieht. Damit ist ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen, der für die Wahl der Analysekategorien von Herberichs/Kiening spricht: Die Verbindung der beiden Begriffe Performativität und Medialität. Der Charakter des Performativen wird immer auch durch die medialen Gegebenheiten mitbestimmt (und nicht nur durch die sozialen), deshalb müssen sie immer als miteinander verbunden gedacht werden.4 Während eine rein sprechakttheoretische Betrachtungsweise oder auch eine auf körperliche performance bezogene Untersuchung eines Gegenstands zu einschränkend ist, erlaubt die Verbindung des Performativen mit dem Medialen eine umfassendere Analyse verschiedenster Gegenstände. Es ist klar, dass ein performatives Phänomen je nach medialer Verfasstheit anders aussieht: Im auf körperlicher Präsenz beruhenden Schauspiel funktioniert es anders als im Film oder in einem literarischen Text. Gerade ein so komplexes und vielschichtiges Werk wie die P-E, das aus ganz unterschiedlichen Medienarten besteht, bedarf einer solchen Offenheit für mediale Gestaltung in der theoretischen Ausrichtung. So können die Charakteristika gelehrter altnordischer Literatur durch die Perspektivierung mit aktuellen theoretischen Zugängen neu ausgeleuchtet werden.

      Wie einige andere sehen auch Herberichs/Kiening in der etymologischen Herleitung des Performativen eine Erklärungsmöglichkeit der verschiedenen zu thematisierenden Aspekte: to perform bedeutet im Englischen eben nicht nur, etwas konkret zur Aufführung zu bringen (Theater, Oper, Sportereignis etc.), sondern auch etwas auszuführen (z.B. ein Muster oder eine Partitur): „Das Performative besteht insofern nicht nur in dem Einmaligen und Ereignishaften einer bestimmten Aufführung oder Lektüre, sondern auch in der Wiederholbarkeit eines Aktes, der auf paradoxe Weise den Eindruck von Einmaligkeit erzeugen und zugleich mit Dauer versehen kann.“5 Das Paradoxe liegt darin, dass die Performanz (= Aufführung) auf der Partitur bzw. dem Muster beruht, die Handlung selbst aber als einmalig wirkt – dieses Paradox kann mit Performativität bezeichnet werden. Es ist dabei ein zentrales Merkmal des Diskurses, die Möglichkeit des Scheiterns der Handlung immer mitzudenken.

      Herberichs/Kiening stellen fest, dass Texte im Allgemeinen, literarische Texte aber im Spezifischen, sehr spannende Untersuchungsgegenstände für das Performative sind:

      [Texte] besitzen einerseits spezifische Vollzugsdimensionen, die uns allerdings nicht als konkrete „Aufführungen“ fassbar werden. Sie enthalten andererseits eine Fülle rhetorischer sprachlicher und handlungsbezogener Elemente, die es uns erlauben, Modelle von Vollzügen und Wirkungsmöglichkeiten von performativen Akten zu beobachten. […] Vor allem literarische Texte sind in dieser Hinsicht interessant: Durch einen höheren Aufwand an sprachlich-imaginativer Formung charakterisiert, markieren sie ihrerseits das Performative oder stellen es gar aus. Der Blick auf sie kann dazu dienen, Grundzüge performativer Dimensionen im Rahmen von Welten zweiter und dritter Ordnung zu studieren […].6

      Literarische Texte aus der Vormoderne sind dabei besonders interessant für eine performative Herangehensweise, denn:

      Sie entstammen einer Kultur, die – wie die Forschung der letzten Jahrzehnte hervorgehoben hat – durch Aspekte wie Körperlichkeit, Mouvance, Ritualität, symbolische Kommunikation, Partizipation, Plurimedialität gekennzeichnet ist. In ihr scheinen zahlreiche Phänomene, seit der Neuzeit durch codifizierte Regularitäten festgelegt, in konstitutiver Weise auf je neue Verhandlung und Geltungssicherung angewiesen zu sein.7

      Wie bereits gezeigt, sind uns die genannten Phänomene in Gestalt von Aufführungen o. ä. heute nicht mehr zugänglich. In überlieferten Aufzeichnungen – in Texten – sind aber dennoch gewisse Sinnpotentiale enthalten, die es sich zu untersuchen lohnt. Es sind keine minderwertigen Stufen einer einstmals realen Situation, sondern eigenständige und auf die Schriftlichkeit hin komponierte Kunstwerke. Es ist zu hoffen, dass über die Theorien des Performativen, diese (performativen) Aspekte der vormodernen Kultur vertieft betrachtet werden können. Dafür braucht es ein verbindendes Analysewerkzeug. Herberichs/Kiening nennen drei Aspekte, die sie als charakteristisch für eine Lektüre im Hinblick auf literarische Performativität in vormodernen Texten ansehen: Die drei Aspekte werden unter Sagen als Tun, Wiederholung/Wiederholbarkeit sowie Rahmung verschlagwortet. Das performative Potential eines Textes lässt sich an diesen Aspekten sichtbar machen, allerdings geht es nicht um die reine Auflistung einzelner Phänomene. Erst im Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte wird das Performative als Beschreibungsmodell aussagekräftig.

      Als Ausgangspunkt für eine neue Lektüre der P-E scheinen diese drei Aspekte vielversprechend, da sie – wie die Edda – die Diskussion der Bedingungen und Möglichkeiten von Sprache und Literatur in den Blick nehmen. Die drei Aspekte machen das performative Potential des Werks sowohl auf struktureller als auch auf funktionaler Hinsicht sichtbar. Sie sollen als rote Fäden der einzelnen Lektüren dienen und werden bei Bedarf weiterentwickelt. Anders als bei Herberichs/Kiening werden die drei Aspekte nicht nur auf einer rein textuellen Ebene betrachtet, sondern die ganze Handschrift wird in eine Analyse miteinbezogen (was zwar von Herberichs/Kiening unter dem Aspekt der Rahmung ebenfalls geschieht, jedoch umfassender betrachtet werden soll). Gerade die Möglichkeit, mithilfe des theoretischen Zugangs eine verbindende Lektüre der verschiedenen Werkteile vorschlagen zu können, ist das Ziel dieser Arbeit. Eine erste Übersicht über die drei Aspekte literarischer Performativität nach Herberichs/Kiening wird im Folgenden vorgenommen, die Anwendung resp. eine allfällige Weiterentwicklung geschieht in den Analysekapiteln.8

      2.4 Drei Aspekte literarischer Performativität

      2.4.1 Sagen als Tun

      Unter diesem – etwas sperrigen – Titel werden bei Herberichs/Kiening Momente bezeichnet, in denen mit Sprache gehandelt wird. Momente also, die an Fragen der klassischen Sprechakttheorie erinnern. In der realen Welt ermöglicht es die soziale Dimension der Sprache in Verbindung mit dem menschlichen Körper, durch Sprache zu handeln bzw. Macht auszuüben. Ebenfalls entscheidend für die Wirkung ist der institutionelle Kontext, in dem etwas durch Sagen getan wird. Sybille Krämer macht in diesem Zusammenhang auf eine – für die vorliegende Arbeit – wichtige Besonderheit von Austins Auswahl der ursprünglichen Performativa1 aufmerksam:

      Ursprüngliche Performativa sind Rituale, Restbestände einer quasi-magischen Praktik im zeremoniellen Reden. […] Die illokutionäre Rolle von Äusserungen wird gewöhnlich mit in Zusammenhang gebracht mit ihrer Bindungsenergie, kraft deren der Sprecher eine soziale Beziehung mit dem Adressaten aufnimmt, die auch zukünftige Verpflichtungen einschliesst. Doch der Standesbeamte, der traut, der Priester, der tauft, der Richter, der ein Urteil spricht, stiften damit keineswegs eine soziale Bindung zu den Verheirateten, dem Getauften und dem Verurteilten. […] Die ursprünglichen Performativa gehören nicht der persönlichen Rede an: Hierin wurzelt deren ‚Aufführungscharakter‘, insofern diese Sprechakte nicht einfach an den Hörer,