Sandra Schneeberger

Handeln mit Dichtung


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gelagerte Frage: Nämlich die, ob die nordische Literatur ein einheimisches oder ein durch eine Obrigkeit wie die Kirche oder den Adel eingeführtes Produkt sei. Im selben Zusammenhang steht die Frage, ob es sich bei der Sagaliteratur um Geschichtsschreibung (resp. -erzählung) oder um Fiktion handelt. Die sogenannte Frei- vs. Buchprosa-Debatte zog sich über viele Jahrzehnte hin und sorgt teilweise noch heute für Diskussionen.27

      Der Romanist Paul Zumthor ist in den 1970er Jahren einer der frühesten Verfechter des Performanzbegriffs in der Mediävistik. Er widmete sich dem Begriff von literaturwissenschaftlicher Seite her, versuchte aber ethnologische, theaterwissenschaftliche und sprachphilosophische Ansätze miteinander zu verbinden, um so mittelalterliche Liedvorträge systematisch analysieren zu können. Hans Rudolf Velten sagt über seine Studien: „Zumthor griff bereits 1972 in seinem Essai de poétique médievale, basierend auf der Grundannahme der Theatralität mittelalterlicher Dichtung, auf den Begriff der performance zurück, um damit die Vokalität und multisensorische Wahrnehmung von künstlerischen Aufführungen zu beschreiben.“28 Zumthor schläg den Begriff der vocalité anstelle von oralité für die mittelalterliche Kultur vor. Obwohl die Schrift bekannt ist (und mittelalterliche Literatur heute nur noch als Schriftstück existiert), wird die volkssprachliche mittelalterliche Kultur von der Mündlichkeit bestimmt und die meisten Texte werden vor einem Publikum aufgeführt. Die menschliche Stimme ist das zentrale Medium, die Schrift kommt nur für ausgewählte Zwecke zum Einsatz. Für die Speicherung und Weitergabe von Wissen ist man sowohl auf die Mündlichkeit wie auf die Schriftlichkeit angewiesen. Mit dem Begriff der vocalité wird dieses mediale Miteinander bezeichnet. Deshalb ist es für die Mediävistik zentral, nicht nur den Text zu untersuchen, sondern auch dessen Aufführungsdimension.29 Jan-Dirk Müller sagt über Zumthor:

      Er hat […] die Materialität literarischer Kommunikation ins Zentrum der Forschung gerückt, angefangen von Stoff und Gestaltung der einzelnen Manuskriptseite über die Überlieferungsgeschichte bis hin zu der den Texten immanenten Theatralität. Er hat schliesslich das Konzept von mittelalterlicher „Literarität“ von den Vorgaben moderner Schriftkultur befreit, die bislang dominantes Modell philologischer Praxis war, hat zentrale literaturwissenschaftliche Begriffe wie ‚Text‘, und ‚Werk‘ für das Mittelalter historisch neu bestimmt und damit auch einer neuen Editionspraxis vorgearbeitet, die unter dem Titel ‚New Philology‘ auf eine Revision der Ausgaben mittelalterlicher Texte abzielt.30

      Das Handbook of Medieval Studies fasst die Auswirkungen des von Zumthor eingeführten Begriffs mouvance zusammen:

      Mouvance remains valid as principle, in theory, but impractical as textual methodology. In hermeneutics, however, it continues to define our conception of medieval textuality. Mouvance serves as a critical tool to be applied sparingly in recognizing and confronting the complex representation and interpretation of individual medieval works which are so rarely fixed in a single textual form other than as an always artificially reconstructed, pseudo-authorial archetype or as a sometimes arbitrarily selected, nominally best manuscript. For those who want „the whole story until now“, mouvance alone can accurately tell the tale through its ideal of respect for the multiple textual versions of a work in progress with all their variants, medieval and post-medieval, modern and now post-modern.31

      Zumthors Arbeiten sind wegweisend für die Mediävistik und prägen sie bis heute.32 Er griff den Entwicklungen der new philology vor, deren Herangehensweise an vormoderne Texte auch hier für den Umgang mit der P-E von grosser Bedeutung ist. In den beiden Lektürekapiteln wird das weiter thematisiert werden. Die Grenzen von Zumthors Begriffen liegen jedoch darin, dass sie in den uns überlieferten Texten nur eine Art Reduktionsform einer ursprünglichen Aufführung sehen und ein Text so nur noch eine Dokumentationsfunktion hat. Wie weiter unten beschrieben, fokussieren aktuelle Performativitätstheorien auf den Text selbst und seine Inszenierungs- resp. Vollzugsdimension.

      Die Diskussion um die Gleichzeitigkeit von Mündlichkeit und Schriftlichkeit dauert dennoch an und Ursula Schaefer macht den Begriff der Vokalität dafür stark. Ihre Überlegungen beruhen auf Zumthors Begriff der vocalité:

      Dieser Begriff [von dem, was kommuniziert wurde] muss zum einen der Tatsache Rechnung tragen, dass auf der Senderseite Schriftliches vorliegt, das auf der Empfängerseite hörend aufgenommen wird. Wie – den gelungenen Kommunikationsakt vorausgesetzt – das Schriftliche gestaltet sein muss, um hörend rezipiert und auch verstanden zu werden, bzw. wie der hörend Rezipierende das Schriftliche versteht, kann schon aus diesem Grund mit einem Textbegriff, der Schreiben und Lesen, vokale Vermittlung und Hören nicht unterscheidet, kaum erfasst werden. Es ist deshalb erneut zuerst zu trennen zwischen schriftlichem und mündlichem Diskurs.33

      Auch in der Skandinavistik wird der Begriff der Vokalität prägend und zeigt sich u.a. für die Lektüre der skandinavischen Ballade als gewinnbringend. Denn diese können nach Jürg Glauser „geradezu als Texte ‚zwischen den Medien‘ – zwischen stimmlicher und (manuskript- bzw. druck-) schriftlicher Transmission – bezeichnet werden.“34

      Unter einer performativen Perspektive interessieren in der germanistischen Mediävistik zu Beginn vor allem literarische Gattungen wie der Minnesang, Sangspruchdichtung oder frühe geistliche Spiele, heute ist aber auch die Epik im Blick.35 Ganz im Sinne Zumthors gibt es mehrere Studien zum performativen Potenzial mittelalterlicher Literatur.36 Im Vordergrund stehen je nachdem Phänomene wie die Stimme und der Klang, bzw. körperliche Sinne wie das Hören. Ebenfalls von Interesse sind die Aufführungsdimensionen mittelalterlicher Texte.37 So werden beispielsweise durch Schrift vermittelte Rituale oder Prozessionen analysiert. Der enge Zusammenhang von Performativität und Medialität kommt auch in den Untersuchungen zur Botenkommunikation oder zum Briefwechsel im Mittelalter zum Tragen.38 Aktuell wird an einer Verbindung zwischen den Feldern der Performativität und der Emotionsforschung gearbeitet, hier sind weitere interessante Fragestellungen zu erwarten.39

      Wichtig für diese Arbeit sind zwei weitere Kategorisierungen, die in der (germanistisch-) mediävistischen Arbeit mit dem Performativen vorgenommen werden. Eine davon ist oben bereits kurz angesprochen worden und soll hier vertieft werden: Es hat sich als hilfreich erwiesen, eine Trennung von struktureller und funktionaler Performativität vorzunehmen. Funktionale Performativität fragt nach der Wirkung eines Textes, interessiert sich also für eine aussertextuelle Ebene an der Schnittstelle zum Rezipienten. Der Text stiftet Wirklichkeit durch Handlungsanweisungen (ein Dialog zwischen Handschrift und Rezipient wird aufgenommen), er fördert z.B. Gemeinschaft (durch die Stiftung des gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses) oder er verändert diese durch die iterativen Inszenierungen bestimmter Inhalte. Im Zusammenspiel mit der medialen Gestaltung wird dieser Wirkungsanspruch gestärkt (oder eben nicht). Strukturelle Performativität interessiert sich demgegenüber für „Performanz im Text“, also z.B. für Strategien, die der Inszenierung von Präsenz, von Mündlichkeit und Körperlichkeit dienen. Dazu gehören beispielsweise fingierte mündliche Kommunikation, ereignishafte Ausrufe oder die Inszenierung von Emotionalität.40 Velten macht aber auf einen wichtigen Punkt aufmerksam:

      Solche performativen Textstrukturen weisen jedoch weniger auf vorgängige Aufführungen hin, sondern sie sind bewusst gelegte Strategien der Schrift mit der Aufgabe, den Text selbst als Bühne von Aufführungen zu präsentieren. Indem solche Inszenierungen auf ihren eigenen, fingierten und artifiziellen Charakter zurückverweisen, können sie ein distanzierendes, sogar parodistisches Potential entfalten.41

      Auch Irmgard Maassen weist darauf hin, dass die genannten Textstrategien keine Spuren von „authentischeren oralen Praktiken“ sind, sondern bewusst gelegte Spuren einer Inszenierung von Oralität und Authentizität in einer Schriftkultur.42 Auch die Lektüren der P-E werden im Hinblick auf diese zwei Dimensionen differenziert. Anschliessend müssen sie jedoch wieder in ihrem Zusammenspiel betrachtet werden, da die eine Dimension nicht ohne die andere existiert. Es wird auch danach zu fragen sein, inwiefern sich die beiden Dimensionen entsprechen oder (bewusst oder unbewusst) Gegensätzliches bewirken.

      Die zweite der angesprochenen hilfreichen Kategorisierungen betrifft Hans Rudolf Veltens vier heuristische Ebenen zur Untersuchung von Performativität: Die erste Ebene ist die Darstellungsebene, auf der Performances und Handlungen im Text wiedergegeben