der 5. Klasse erhielt sie die Aufgabe, einen Würfel zu beschreiben. Die einfache Fragestellung lautete: Wie viele Seiten hat ein Würfel? Christina antwortete mir umgehend mit einem sicheren Lächeln im Gesicht: «Sechzig!»
Nach dieser Antwort riss bei mir allmählich der Geduldsfaden. «Ein Würfel kann doch nicht sechzig Seiten haben!», erwiderte ich etwas ungehalten, holte einen kleinen Würfel aus der Spielschublade und legte ihn vor sie hin.
Daraufhin kam die korrekte Antwort: «Er hat sechs Seiten.»
Was ich damals nicht wissen konnte, ist, dass Christina bereits zu diesem Zeitpunkt multidimensional zu sehen vermochte und manchmal schlichtweg vergaß, Fragen gemäß unserer dreidimensionalen Sicht zu beantworten. Auch diese Begebenheit klärte sich erst Jahre später auf, als Christina mir darlegte, dass sie damals imstande war, zehndimensional zu sehen. Auf meine Frage, wie denn ein solch zehndimensionaler Würfel mit sechzig Seiten aussehe, meinte sie nur lachend: «Nun ja, das Ding hat definitiv keine Ähnlichkeit mit einem Würfel unserer Dimension.»
Christinas Vorlieben
Christinas Hauptbeschäftigung während ihrer Schulzeit war und ist noch immer das Lesen. Mit dem ganzen üblichen Mädchenkram – einschließlich Schminke, Schmuck, Uhren, Handys, Social Media, Fernsehen usw. – konnte sie seit jeher nicht viel anfangen. Lieber spielte sie in freier Natur mit den Tieren oder den Nachbarskindern.
Zu Weihnachten oder zum Geburtstag meldete sie nie Wünsche an. Wenn man sie nach ihren Geschenkwünschen fragte, kam meist eine Antwort wie: «Ich brauche nichts. Ich habe alles, was ich brauche.» Dies war für die Anverwandten nicht wirklich hilfreich und sorgte nicht selten für Bemerkungen wie etwa: Diese Bescheidenheit ist doch nicht normal!
Oft bekam sie dann Bücher geschenkt, denn nichts konnte Christina so sehr begeistern wie Bücher. Anfangs interessierten sie hauptsächlich Bücher mit schönen Illustrationen über die Natur. Vor allem Weltnaturerbe-Stätten sprachen sie an, aber auch die Sterne und das Weltall. Als Unterstufenschülerin sammelte sie zudem niedliche kleine Engelchen, die noch heute ihre Wände und Regale zieren. Auch Steine faszinieren sie seit jeher sehr.
Bereits als Kleinkind liebte Christina Engel und wusste um deren Bedeutung. Mehr als dreißig Engelfiguren stehen noch heute in ihrem Zimmer. (Bild aus dem November 2004)
Das zwanghafte Schenken an Weihnachten aber blieb stets verwunderlich für das Mädchen. Einige Jahre später bemerkte sie zum «Fest der Liebe» einmal: «Ich verstehe nicht, warum sich die Menschen nur gerade an diesen Tagen Geschenke machen oder sich Zeit füreinander nehmen. Für mich ist immer Weihnachten, dazu braucht es keinen Christbaum und keine Geschenke.»
Eine große Vorliebe von Christina waren und sind die Tiere. Als Kind rettete sie mit großer Freude und Ernsthaftigkeit allerlei Schnecken, Käfern und anderen Kleintieren das Leben. Wenn es regnete, kontrollierte sie oft die Straßen, um sicherzustellen, dass keine Schnecken überfahren wurden. Das macht sie übrigens noch heute. Auch Fliegen, Wespen oder Bienen, die versehentlich ins Trinkglas fallen, fischt sie stets von Hand aus dem Glas und lässt sie wieder fliegen. Ihre Erklärung, weshalb sie dabei nicht gestochen werde: «Vielleicht fühlen sich die Bienen von mir nicht bedroht.»
Gegenüber keiner Art von Tieren hatte Christina je Berührungsängste – weder gegenüber Spinnen oder Schlangen, noch gegenüber großen Raubtieren. Deshalb mochte sie liebend gerne Zoos besuchen und einfach die dortigen Tiere betrachten. Überhaupt zeigte sie in keinem Lebensbereich je Angst. Nur bellende Hunde oder generell Lärm mochte sie nicht – nicht etwa, weil sie Angst vor Hunden hatte, sondern weil das Gebell akustisch für sie schwierig war.
Im Alter von sieben Jahren bekam sie einen Hasen geschenkt, und mit neun eine weiße Alpaka-Stute, die mittlerweile bereits drei Jungtiere geworfen hat. Mario besitzt ebenfalls einen Hasen sowie einen Alpaka-Hengst. Christina war stets äußerst liebevoll mit den Tieren und schien sich mit allen unterhalten zu können. Erklären konnte ich mir diese wunderliche Kommunikation zwar nie, doch es fühlte sich stets völlig selbstverständlich und natürlich an.
Oktober 2012: Die 11½-jährige Christina mit ihrer Alpaka-Stute Daisy.
Christina konnte mit der Natur förmlich verschmelzen. Ein eindrückliches Beispiel dafür trug sich an einem milden Oktobertag zu, als sie neun Jahre alt war. Es waren Herbstferien, und die Kinder verbrachten den Tag mehrheitlich im Freien. Wir ließen die Hasen nochmals in ihr großes Gehege ins Freie. Als ich meinen Blick aus dem Haus nach draußen schweifen ließ, erblickte ich Christina, die alleine mit einem Buch inmitten des großen Geheges saß und den beiden Hasen eine Geschichte vorlas – ohne Worte versteht sich. Die beiden Alpakas, deren Revier an das Hasengehege grenzt, setzten sich ebenfalls an den Zaun und lauschten der stillen Erzählung. Die Situation erweckte den Eindruck, als ob alle Tiere aufmerksam der lautlosen Geschichte folgten. Und das taten sie wohl auch, denn schon damals verfügte Christina über die Fähigkeit, mit Tieren, Pflanzen und Steinen zu kommunizieren.
Von der dritten bis zur sechsten Klasse spielte Christina einige Zeit lang Keyboard. Sie zeigte sich darin zwar nicht etwa besonders talentiert, aber sie genoss das Musizieren und besuchte die Stunden gerne. Auch ich begrüßte es aus therapeutischer Sicht, da das Mädchen sonst sehr wenig mit den Händen arbeitete und motorisch eher unbeholfen war.
Fürs Fernsehen hingegen hegte sie kaum je Interesse. Wenn abends die gemeinsame Fernsehstunde für die Kinder anstand, nahm sie meist ein Buch zur Hand oder schrieb irgendetwas, ohne dass sie sich gestört fühlte durch uns oder durch den Fernseher.
Christinas Lieblingsbeschäftigung blieb immer das Lesen. Sie war derart schnell darin, dass ich es oft kaum glauben konnte. Im Alter von zehn Jahren las sie pro Woche mindestens fünf dicke Bücher. 300 Seiten waren da im Nu gelesen, und sie wusste anschließend über den gesamten Inhalt sehr gut Bescheid, was mit dem Lese-Kontrollsystem «Antolin» auch nachgewiesen wurde. Zu jener Zeit ahnten wir noch nicht, dass dieses Mädchen über synästhetische Fähigkeiten verfügt, also völlig anders angelegte neuronale Hirnstrukturen aufweist und deswegen unter anderem auch sehr schnell zu lesen und Texte zu verstehen imstande ist.
Ihr Lesedrang konzentrierte sich anfänglich vor allem auf Abenteuer- und Fantasiegeschichten, später dann zunehmend auch auf Fachbücher in den Bereichen Naturwissenschaften und Mystik. Mit etwa zehn Jahren entdeckte sie ihre große Begeisterung für Kosmologie und Astrologie, die sich allerdings bereits Jahre zuvor angekündigt hatte.
Denn schon als kleines Mädchen von zwei, drei Jahren hatte sie sich öfters am Abend, wenn es dunkel geworden war, einen Stuhl an ein geschlossenes Fenster geholt und stumm in die dunkle Nacht hinausgeschaut. Manchmal saß sie auch vor der Balkontüre, meistens aber wechselte sie an verschiedene Orte, als ob es überall etwas anderes zu sehen gab. Ich hatte mich oft gewundert, was für sie daran so faszinierend war, denn die Sicht auf die Sterne war ja häufig von Wolken verdeckt. Es musste also einen anderen Grund geben, welchen ich wiederum erst Jahre später erfuhr. Jedenfalls waren sämtliche Fensterscheiben und die Balkontüre stets gezeichnet – oder treffender ausgedrückt: verschmiert – von ihren Händchen und ihrem kleinen Mund, insbesondere in ihrem Kinderzimmer. Doch ich ließ sie stets gewähren, denn aus irgendwelchen Gründen fand sie den Anblick der nächtlichen Dunkelheit offensichtlich deutlich spannender als das Fernsehen.
2003: Die rund zweijährige Christina am Fenster, um fasziniert ins Dunkel zu schauen.
Beginnende «Vortragstätigkeit»
Etwa ab dem Alter von zehn Jahren begann Christina, der Familie lange Ausführungen über naturwissenschaftliche Themen vorzutragen. Voller Inbrunst erzählte sie beispielsweise liebend gerne über den Kosmos, referierte über unbekannte Planeten im Universum, über deren Entstehung und Struktur und erläuterte zuweilen auch das dortige Klima und die jeweiligen Naturgesetze. Woher bloß hatte