Eine solche klare Aussage nach jahrelanger mühsamer Ernährung über einen Schlauch – wie konnte das möglich sein?
Da mich Christina weder je angelogen noch jemals eine Situation falsch eingeschätzt hatte, glaubte ich ihr auch in diesem Moment und ließ sie wie gewünscht ohne Nahrung die rund 150 Meter bis zu jenem Platz laufen, wo der Schulbus sie abholte und in den Kindergarten brachte. Manch Außenstehender hätte wohl angemahnt, dass dieses Verhalten völlig verantwortungslos sei, doch irgendwie vertraute ich meiner kleinen Tochter.
Christina sollte Recht behalten. Im Nachhinein kann man wohl sagen, dass dieser 13. Juni 2007 nicht nur Elenas sechster Todestag war, sondern auch der Tag, an dem Christinas Seele endlich vollständig in ihrem Körper ankam. So jedenfalls erklärte Christina es mir Jahre später selber.
Die PEG-Sonde blieb anschließend noch für weitere drei Monate in Christinas Bauchdecke, bis sichergestellt war, dass es zu keinem Rückfall mehr kommen würde. Dann endlich konnte sie entfernt werden. Es dauerte danach zwar noch einige Jahre, bis das Mädchen jegliche Nahrungskonsistenz problemlos essen konnte, doch im Alter von etwa zehn Jahren hatte sich alles normalisiert, und seitdem legt sie ein sehr genüssliches, natürliches Essverhalten an den Tag. Heute deutet nur noch eine Narbe in Magenhöhe – wie ein zweiter Bauchnabel – auf diese schwierigen Umstände in Christinas ersten Lebensjahren hin.
September 2007: Mit 6½ Jahren wird Christina von ihrer PEG-Sonde befreit. Mario ist zu diesem Zeitpunkt knapp 4 Jahre alt, und beide sind gleich groß und in ihrer körperlichen Entwicklung etwa gleich weit.
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Christinas Schulzeit
Bei den Einschulungstests im Kinderspital hatte Christina ziemlich schlecht abgeschnitten, so dass man uns mitteilte, dass das Mädchen kaum die normale Grundschule werde besuchen können. Aber ich ließ mich nicht verunsichern, denn ich kannte meine Tochter. Fremden gegenüber zeigte sie stets eine gewisse Zurückhaltung, was sich wohl auch auf die Testergebnisse ausgewirkt hatte. Während sich ihr Verständnis der Zahlenreihen deutlich unterdurchschnittlich zeigte, schnitt sie beispielsweise bezüglich Menschenkenntnis massiv überdurchschnittlich ab. Doch die Menschenkenntnis gehört bei uns nicht zu den relevanten schulischen Anforderungen.
Einige der Ergebnisse ihrer Einschulungstests erschienen rätselhaft und unlogisch, denn niemand verstand damals, dass Christina über außergewöhnliche Wahrnehmungen und Begabungen verfügte, auch ich nicht.
Wir schickten das Mädchen also in die erste reguläre Klasse mit der Option, dafür gegebenenfalls auch zwei Jahre beanspruchen zu können. Dazu kam es nicht, und in der Folge absolvierte sie problemlos alle Stufen der normalen Primar- und Sekundarschule.
Christina zeigte sich gemäß Aussagen ihrer Lehrer stets als ungewöhnlich ruhige, fast schüchterne Schülerin, allerdings mit einer hohen Lernbereitschaft, mit großer Ausdauer und mit einem ausgezeichneten Konzentrationsvermögen. Ihre Mitschüler schätzten ihre liebevolle und hilfsbereite Grundhaltung. Sie war zwar körperlich gesehen immer weit unterentwickelt, doch sie fühlte sich dadurch nie benachteiligt oder ausgegrenzt. Ihre auffallendste Eigenschaft aber war wohl, dass sie immer authentisch, immer sie selbst war, und dass sie niemals irgendwelche Intrigen, Ungerechtigkeiten oder Lügen unterstützte. Zu Hause erzählte sie häufig von der Schule, und ihre Wahrnehmungen der Eigenheiten und Tätigkeiten der anderen Schüler wie auch der Lehrer war stets sehr beeindruckend, aber nie urteilend. So konnte sie zum Beispiel fragen: «Mama, warum merkt der Lehrer nicht, wie er von einigen Schülern angelogen wird?»
Oft beschrieb sie auch detailliert bestimmte Emotionen von Personen, was mich immer wieder verwunderte. Wie konnte ein derart kleines Mädchen bei anderen Menschen so vieles spüren und wahrnehmen?
Christina spielte zwar gerne mit anderen Kindern, oft aber auch stundenlang alleine. Sie liebte es, an unserem Brunnen mit Wasser zu experimentieren, ebenso auch mit Steinen und vor allem mit Tieren und Pflanzen. Auch dies war für mich lange Zeit rätselhaft, doch da es völlig natürlich wirkte, machte ich mir keine Sorgen deswegen. Christina zeigte sich als sehr naturverbundenes, fröhliches Mädchen, das viel lachte und stets eine tiefe Zufriedenheit ausstrahlte, auf Außenstehende jedoch meist einen sonderbar ruhigen Eindruck machte. Vor Fremden sprach sie oft gar nicht.
«Schon zehn Jahre hier»
An ihrem 10. Geburtstag verkündete Christina zum Erstaunen der versammelten Familie – einschließlich Großeltern, Paten, Freunden sowie einiger Nachbarskinder – mitten beim Kuchenessen: «Mama, jetzt bin ich schon zehn Jahre auf dieser Welt, und es ist noch sooo nichts gelaufen!» Es schien, als sei ihr plötzlich bewusst geworden, dass sie ja hierher auf Erden gekommen war, um eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, und dass sie damit noch immer nicht begonnen habe.
Nach dieser Aussage war ich kurz sprachlos. Wieder eine ihrer zahlreichen rätselhaften Bemerkungen, die ich nicht zu deuten wusste. Denn aus meiner Sicht war in den zurückliegenden zehn Jahren sehr wohl sehr viel gelaufen, und vieles davon war alles andere als einfach gewesen. Doch anscheinend maß Christina ihrer umfangreichen Krankengeschichte nicht allzu viel Gewicht bei. Sie schien sich vielmehr in ihrem Leben zu langweilen und suchte endlich eine angemessene Herausforderung. Damals verstanden wir die Bedeutung dieser wunderlichen Aussage noch nicht; sie sollte sich uns erst einige Jahre später offenbaren.
Mario und Christina waren von Anfang an ein innig miteinander verbundenes Geschwisterpaar, und dies ist auch heute noch so. Schon früh zeigte sich, dass Mario eher ein begabter Techniker und seine Schwester eher eine Denkerin ist. Mit den Händen zu arbeiten, war nie Christinas Ding, und so beanspruchte sie sehr häufig seine Hilfe, ohne sich jedoch benachteiligt zu fühlen. Ich staunte oft, dass sie darüber nicht frustriert war, doch sie fand Marios praktische Talente einfach nur toll. Auf diese Weise ergänzten sich die beiden in vielerlei Hinsicht, oft auch auf amüsante Art und Weise. Geschwisterneid oder Streitereien, gegenseitiges Herumkommandieren oder gar Schadenzufügen war diesen Kindern völlig unbekannt. Im Gegenteil, sie waren ausgesprochen fürsorglich zueinander. Dies fiel mir erst dann wirklich auf, wenn ich andere Kinder beobachtete, die teilweise ganz anders miteinander umgingen. So war ich auf eine stille und demütige Art und Weise einfach dankbar für die schöne Fügung, solche Kinder haben zu dürfen.
Sonderbar war eines Tages eine Frage von Mario, als er ungefähr sechs Jahre alt war. Ich war mit ihm im Auto unterwegs, und er saß auf dem Rücksitz. Ganz nebenbei stellte er mit seiner kindlichen Stimme die Frage: «Mama, was ist eine Heilige?». Obwohl er katholisch erzogen wurde, wusste der Erstklässler von Religion noch nicht allzu viel, daher kam diese Frage ziemlich überraschend. Weshalb wollte er aus heiterem Himmel wissen, was eine Heilige ist?
Ich antwortete: «Kurz gesagt, waren Heilige meist aufopfernde Menschen, die sich für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt einsetzten. Manche von ihnen konnten auch heilen und Wunder vollbringen.» Ich nannte ihm ein paar Beispiele, wie etwa die heilige Bernadette Soubirous aus Lourdes, deren Körper nach ihrem Tode nicht verweste und noch heute erstaunlich lebendig aussieht.
Marios Antwort auf diese knappe Erklärung ließ mich verstummen: «Aha, dann ist Christina also eine Heilige.» Seine klare Feststellung, an der er keinerlei Zweifel zu hegen schien, ließ ich einfach mal so stehen, ohne zu fragen, warum er denn meine, dass seine Schwester eine Heilige sei.
Es ist durchaus nicht üblich, dass Kinder ihre eigenen Geschwister für Heilige halten, schon gar nicht, wenn sie selbst überhaupt nicht exakt wissen, was Heilige eigentlich sind. Irgendetwas hatte Mario an seiner Schwester bemerkt. Aber was? Allein ihr friedfertiges Wesen konnte kaum der Grund für eine solche Aussage gewesen sein. Auch dieser wunderliche Moment sollte erst einige Jahre später aufgeklärt werden.
Weitere Auffälligkeiten während Christinas Schulzeit zeigten sich etwa im Mathematikunterricht, der für sie stets eine spezielle Herausforderung darstellte. Ihre Leistungen in Mathematik standen in keinem Verhältnis zu jenen in den Sprachen oder den Naturwissenschaften. Schon als Kleinkind bei den Entwicklungskontrollen in der Klinik war ihr Verständnis der Zahlenreihen weit unter der Norm gewesen, und auch später