und ich akzeptierte in meinem Herzen, dass Elena nun ihren eigenen Weg gehen würde.
Zugleich machten uns die Ärzte vorsichtig darauf aufmerksam, dass Zwillinge sich für gewöhnlich sehr nahe stehen und dass der Tod von Elena mit hoher Wahrscheinlichkeit bei Christina zu weiteren problematischen Rückschlägen führen werde. Dies wiederum war für mich eine kaum mehr zu ertragende Schreckensvorstellung. Doch sollten wir alle noch staunen, denn es kam wundersamerweise ganz anders.
Die letzten acht Stunden vor Elenas Tod waren unvorstellbar friedlich. Inmitten meiner Traurigkeit verspürte ich eine tiefe innere Ruhe und ein seltsames Einverstandensein, so dass ich mich selbst wunderte, woher diese Kraft kam. Konnte es sein, dass das Sterben gar etwas Schönes an sich hatte? Es herrschte ein unerklärlicher, für mich noch nie empfundener Friede, eine Schwingung, die ich mit Worten nicht beschreiben kann – so, als wäre der ganze Raum von einer sehr lichtvollen Energie erfüllt, die keinerlei negative Emotionen zuließ. In diesen letzten Stunden legte sich auf Elenas Gesicht ein äußerst friedlicher Ausdruck. Ja, sie schien regelrecht zu lächeln, während sie in unseren Armen lag. Das war keine Einbildung, denn auch das medizinische Personal bestätigte uns, dass sie denselben Eindruck hatten. Unter diesem Lächeln wurde Elenas Herzschlag zunehmend langsamer, bis schließlich am frühen Morgen des 13. Juni 2001 nur noch die Nulllinie auf dem Monitor zu sehen war.
Mit Elenas Ableben erfolgte entgegen den Prognosen der Ärzte erstaunlicherweise keine Verschlechterung des Zustandes von Christina, sondern im Gegenteil eine deutliche Verbesserung, und sie gewann merklich an Kraft. Es schien, als ob Christina durch Elenas Tod gewissermaßen nochmals neu geboren wurde. Genauso empfand es auch das Pflegepersonal. Für mich hatte, trotz der Trauer, somit alles einen verborgenen Sinn, dessen Bedeutung und Auswirkung wir erst viel später erfahren sollten. Denn derselben unbeschreiblichen, tiefen Friedensschwingung würde ich auf beeindruckende Art und Weise wieder begegnen, 15 Jahre später.
Auf uns kamen nebst den inneren Herausforderungen nun auch die üblichen Formalitäten bei einem Todesfall zu, darunter seltsam anmutende Sonderregelungen bei einem so kleinen Kind mit sterblichen Überresten von gerade einmal 1500g. Zunächst wurden wir seitens der Ärzte darauf aufmerksam gemacht, dass wir eine Wahl hatten, was mit den sterblichen Überresten von Elenas Körper geschehen soll. Dass es in einer solchen Situation überhaupt eine Wahlmöglichkeit gibt, war uns nicht bewusst, doch gab es tatsächlich vier Varianten: Die erste Möglichkeit war, den Körper von Elena zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen; die zweite, ihn einfach zu «entsorgen»; die dritte, ihn zu kremieren und in einer Urne beizusetzen, und die vierte, Elena in einem üblichen Grab beizusetzen. Wir waren uns sofort im Klaren: Etwas anderes als ein Begräbnis kam für uns damals nicht in Frage.
Wir suchten uns einen kleinen weißen Sarg aus. Da es für Elenas «Größe» noch keine Konfektionen gab, suchte ich in der Spielwarenabteilung eines Kaufhauses nach einem weißen Kleid und fand schließlich ein schlichtes weißes Barbie-Puppenkleid. Eine wirklich surreale Situation!
Die Todesanzeige in der Zeitung verfasste ich exakt so, wie ich sie einige Tage zuvor geträumt hatte, unter Verwendung derselben Worte: «Wir geben ein kleines, großes Wunder in Gottes Hände. Wir sind dankbar für die Freude, die sie uns bereitet hat. Elena wird uns als Christinas Schutzengel stets in Erinnerung bleiben.»
Diese Worte hätten, wie ich erst 13 Jahre später erfahren würde, kaum treffender gewählt werden können, denn sie sollten sich auf höchst eindrucksvolle Art und Weise bewahrheiten. Auch Elenas Grabstein besteht aus weißem Marmor mit einem eingravierten Engel.
Die Tage danach waren zerreißend. Die anfängliche Freude darüber, dass Christina noch da und bei wachsenden Kräften war, wich nun allmählich einer tiefen Trauer über den Verlust von Elena. Das Leben ging einfach weiter. Wie zuvor kam ich täglich auf die Intensivstation, und fast demonstrativ stand die leere Isolette von Elena noch tagelang neben dem Inkubator von Christina. Es war eine knallharte Tour der Verarbeitung. Aber für mich zahlte sie sich aus, und ich fand Schritt um Schritt wieder den Weg zum Licht. Bald überwog für mich wieder die Freude und die Dankbarkeit darüber, dass Christina noch bei uns war.
Ich hatte mir zuvor schon, angesichts der sterbenden Kinder auf der Intensivstation, Gedanken über das Abschiednehmen gemacht. Ich hatte mir vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen würde, ein Kind auf diese Weise zu verlieren – nach einer unglaublich bewegenden, langen Krankengeschichte, die das gesamte innere und äußere Leben der betroffenen Familie verändert. In Anbetracht der Umstände war ich nun unendlich dankbar dafür, dass Christina noch lebte. Doch ihr Kampf ums Überleben war noch lange nicht ausgestanden.
Später erzählte mir mein Ehemann, er habe in der Zeit nach Elenas Tod auf der Intensivstation eine sonderbare kurze Begegnung mit einem ihm nicht bekannten, älteren Arzt gehabt. Dieser Arzt habe bezüglich Christina nur diese gleichsam prophetischen Worte zu ihm gesagt: «Bei diesem Kind wird man sich einiges nicht erklären können.» Damals machten wir uns keine großen Gedanken über diese rätselhafte Aussage und suchten nicht nach einer tieferen Bedeutung. Wir wussten nicht, dass sie längst nicht die einzige wunderliche Bemerkung von Fremden in Bezug auf Christina bleiben würde.
Christina verbrachte anschließend weitere strapaziöse Wochen auf der Intensivstation, bis wir sie nach gut vier Monaten mit erst knapp 2500g Körpergewicht endlich nach Hause nehmen durften und ich die kleine Wohnung in St. Gallen wieder aufgeben konnte. Dies war zweifelsohne der glücklichste Moment in meinem bisherigen Leben.
Christina war ein äußerst friedliches und herziges Baby, aber noch immer sehr, sehr klein. Nach wie vor wurde sie über eine Magensonde ernährt und befand sich weiterhin in engmaschigen Kontrollen hinsichtlich ihrer sensorischen und motorischen Entwicklung. Was mich betrifft, so war ich schon früh der Überzeugung, dass dieses Mädchen keine Augen- oder Gehörschäden davontragen würde, da sie ein äußerst waches Wesen zu sein schien. Wie sich ihre Fein- und Grobmotorik entwickeln würden, war allerdings schwer abzusehen, ebenso auch ihre kognitive Entwicklung. Dieses Kind wollte schon von Geburt an nie in irgendein Raster passen, denn allzu viel war bei Christina einfach besonders. Medizinische Vergleiche mit anderen Kindern zu ziehen, war also zwecklos, denn auch für die Ärzte stellte sie oft ein großes Rätsel dar.
Wie sehr außerhalb jeglicher medizinischer Norm das Mädchen lag, zeigten mir vor allem gleichaltrige Kinder, insbesondere die beiden etwa zur gleichen Zeit geborenen Babys zweier meiner Brüder. Der Unterschied war extrem und ab und an auch ein wenig frustrierend. Doch Christina hatte offensichtlich ihren eigenen Lebensfahrplan, den ich einfach zu akzeptieren hatte.
Trinken konnte das Mädchen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch man war zuversichtlich, dass sich spätestens nach ein paar Monaten das Trinkverhalten normalisieren würde. Über eine Nasensonde wurde sie tröpfchenweise mit Muttermilch versorgt, Tag und Nacht und mit unglaublich kleinen Portionen von nur wenigen Millilitern. Diese Versorgung blieb zu Hause meine Hauptaufgabe, die mich in höchstem Maße forderte und zugleich auch mit höchstem Glück erfüllte, wenn ich sah, dass ich dadurch aktiv zu Christinas Überleben beitragen konnte. Warum das Mädchen allerdings auch nach weiteren Monaten noch nicht von der Sonde loskam, war unerklärlich. Die Ärzte und wir Eltern hofften, dass es eines Tages einfach «klick» machen und dass Christina so den Schluckreflex endlich aktivieren würde. Doch es sollten noch etliche Jahre vergehen, bis Christina tatsächlich in unserer Realität ankommen würde. Glücklicherweise war ich damals im Unwissen über die Anstrengungen der bevorstehenden Jahre.
Nach sechs Monaten stellte sich die Frage, welche hoch entwickelte Frühchenmilch Christina nach der Muttermilch bekommen sollte. Doch auf sämtliche Spezialnahrung reagierte sie mit massiver Neurodermitis. Es gab Tage, da bekam das Mädchen einfach nur Tee sondiert. In der Klinik riet man mir damals noch von Spender-Muttermilch ab, genauer gesagt übernahm die Klinik keine Verantwortung dafür. Denn das Verabreichen von Muttermilch war zu vergleichen mit einer Bluttransfusion, barg also gewisse Risiken. Doch ich hatte keine Wahl. Eine vertraute Bekannte von mir, die mit einem Frühgeborenen ebenfalls einige Wochen auf der Intensivstation verbracht hatte, hatte noch einiges an eingefrorener Muttermilch übrig, und damit überbrückten wir einige weitere Wochen. Dies war damals überlebenswichtig für Christina.
Am Neujahrstag 2002 war Christina etwas mehr als acht