würde ich erfahren, dass sich solch hochschwingende Kinder oft schwierige Startbedingungen aussuchen, um in ihrem irdischen Leben Fuß zu fassen. Da bildeten meine Zwillinge anscheinend keine Ausnahme.
Damals war ich knapp 29 Jahre alt und seit einigen Jahren nebst dem Beruf als Medizinische Praxisassistentin auch Kaderathletin in der Leichtathletik, zudem erledigte ich die Büroarbeiten in unserem 1997 gegründeten eigenen KMU-Betrieb. Während dieser Schwangerschaft zwangen mich die äußeren Umstände nunmehr zu viel Ruhe, welche ich meist liegend verbrachte, da ich mich so am wohlsten fühlte. Daher trieb ich ab der zweiten Schwangerschaftswoche keinerlei Sport mehr – eine riesige körperliche und mentale Umstellung vom täglichen Lauftraining auf ein Null-Sport-Niveau. Doch es war, wie fast alles im Leben, bloß eine Frage der Einstellung zur aktuellen Situation. Außerdem arbeitete ich nur noch zu 50% in der Arztpraxis und reduzierte auch mein Pensum im eigenen Betrieb.
Es war eine äußerst seltsame Schwangerschaft, alles andere als rosarot. Nebst der massiven Übelkeit schien es ein stetiger Kampf zu sein, die Kinder nicht zu verlieren. Bereits in den ersten Schwangerschaftsmonaten waren daher einige Klinikaufenthalte nötig. Von Anfang an wurde deutlich, dass ich sehr stark auf mein eigenes ausgeprägtes Körpergefühl würde hören müssen, um diesen Kindern überhaupt die Chance auf ein Leben zu ermöglichen.
Der Entscheid, zu Gunsten einer Babypause mit dem Leistungssport vorerst aufzuhören, hatte sich für mich damals richtig angefühlt, wenngleich er in meinem sportlichen Umfeld größtenteils nicht verstanden worden war. Das kümmerte mich jedoch wenig, denn ich bekam immer mehr das Gefühl, es könnten noch andere, weitaus wichtigere und schwierigere Aufgaben auf mich warten. Ich war der Auffassung, dass eine Schwangerschaft bedeutender sei als meine damaligen Erfolge im Sport. Ich war gerade zum zweiten Mal Schweizer Meisterin über die Marathondistanz geworden, und so standen mir in sportlicher Hinsicht im Grunde alle Türen offen. Doch der Unfall im November 1999 hatte alles verändert. In meinem Inneren schien dieser hauptsächlich auf den Beruf und den Leistungssport ausgerichtete Lebensfahrplan ohnehin nicht ganz stimmig zu sein. Auch ein späterer Wiedereinstieg in den Sport war zu diesem Zeitpunkt kein Thema. Ich wollte die Zukunft vorerst einfach auf mich zukommen lassen.
Am Ende der 25. Schwangerschaftswoche erwachte ich eines Morgens mit starken Wehen. In der regionalen Klinik wurde mir die Höchstdosis an Wehenhemmern verabreicht, und man verlegte mich umgehend notfallmäßig auf die Intensivstation des größeren Kantonsspitals. Dort machten mir die Ärzte klar, dass die Zwillinge als extreme Frühchen zur Welt kommen würden, wenn es nicht gelänge, meinen Zustand sofort zu stabilisieren. Die Lage war äußerst kritisch, und nach 36 Stunden machte mein Körper die Strapazen mit Höchstdosen von Cortison, Wehenhemmern und Antibiotika schlichtweg nicht mehr mit. Dann ging alles rasend schnell: Die beiden Zwillingsmädchen wurden per Not-Kaiserschnitt mitten in der Nacht zur Welt gebracht – am Anfang der 26. Schwangerschaftswoche, fast dreieinhalb Monate zu früh!
Damit begann meine bis dahin schicksalhafteste Zeit, die mich jäh aus meinem gewohnten Leben riss und mich mit Tatsachen konfrontierte, die mir nahezu keinen eigenen Handlungsspielraum mehr ließen. In meinen bisherigen Rollen als Ehefrau, als Praxisassistentin, als Geschäftsfrau und als Leistungssportlerin war ich es gewohnt, eigenständig zu entscheiden, zu handeln und zu gestalten. Doch nun lag das Schicksal sowohl über mich selbst als auch über die Zwillinge nicht mehr in meinen Händen. Es schien, als hätte da jemand ganz andere Pläne.
Später erfuhr ich, dass kurz nachdem man mich in den Operationssaal gebracht hatte, ein älterer Arzt nachdenklich zu meinem Mann gemeint hatte: «Manchmal gibt es ja Wunder.» Damit war hinsichtlich der Überlebenschance der Zwillinge alles gesagt.
Es war die Osternacht vom 15. April 2001. Dass die Zwillinge sich ausgerechnet die Auferstehungsnacht für ihre Geburt ausgesucht hatten, mochte wohl kein Zufall sein. Allerdings sollte es noch rund dreizehn Jahre dauern, bis ich die tiefere Bedeutung dieses Aspektes erfahren würde.
Auch über die Bedeutung der beiden Namen für meine Töchter hatte ich mir im Vorfeld keine expliziten Gedanken gemacht. Die Namen Elena und Christina waren einfach unsere klaren Favoriten und standen bereits vor den sich nun überschlagenden Ereignissen fest. Irgendwie schienen sie uns stimmig zu sein. Auch hier sollte sich erst Jahre später herausstellen, dass die Namen kaum treffender hätten gewählt werden können. Elena bedeutet «die Lichtvolle», und Christina bedeutet «Anhängerin/Nachfolgerin Christi».
Als erstes erblickte Elena in jener Osternacht um 00:25 Uhr das Licht der grellen OP-Beleuchtung. Christina folgte ihrer Schwester um 00:27 Uhr nach. Die winzigen Kinder bekam ich allerdings nicht sofort zu Gesicht. Ich sah nur verschwommen ein Heer von Ärzten und wunderte mich, warum mitten in der Nacht eine solch große Anzahl von Medizinern versuchten, mich und die neugeborenen Zwillinge zu versorgen. Inmitten dieser ganzen Dramatik aber breitete sich in mir auf wundersame Weise ein zutiefst beruhigendes Gefühl aus, dass sich die Zwillinge in guter Obhut befanden, und so versank ich vertrauensvoll wieder ins Dunkle.
Für die damaligen Verhältnisse standen die Mädchen knapp an der medizinischen Hürde, um überhaupt eine Chance zu bekommen, auf der Intensivstation aufgenommen zu werden. Dabei war nicht das erschreckend tiefe Körpergewicht entscheidend, sondern das weibliche Geschlecht und die vollendete 25. Schwangerschaftswoche. Doch zeigten beide Frühchen ausreichend Lebenszeichen, um an die überlebenswichtigen Geräte angeschlossen zu werden. Christina wies mit einem Apgar-Score von 1’5/5’5/10’6 geringfügig schlechtere Werte auf als Elena. Beide wurden umgehend vom Kantonsspital St. Gallen auf die Intensivstation der nahe gelegenen Kinderklinik verlegt, wo man auf Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1000g spezialisiert war. In der Stadt St. Gallen fiel in jener Nacht heftig Schnee – ungewöhnlich für Mitte April.
Es wurde Ostersonntagnachmittag, bis ich im Rollstuhl die Zwillinge erstmals besuchen konnte. Der erste Eindruck auf der Kinder-Intensivstation war sogar für mich ausgesprochen intensiv, obwohl ich zuvor selber in Krankenhäusern gearbeitet hatte. Rund ein Dutzend Isoletten waren zu sehen, allesamt an mehrere Überwachungsmonitore angeschlossen, welche intermittierend Alarm schlugen, und dazwischen rotierende Schwestern und Ärzte. Der Lärmpegel schien mir ungewöhnlich hoch, doch man gewöhnte sich schnell daran.
Die Isoletten von Elena und Christina standen direkt nebeneinander. In ihrem 40°C warmen Inkubator waren die beiden Winzlinge noch vollständig von einer schützenden Plastikfolie zugedeckt, um nicht auszukühlen. Somit waren sie für mich auf den ersten Blick gar nicht zu erkennen, sondern erst nach dem Entfernen der Folie. Meine beiden Kinder zum allerersten Mal zu sehen, war für mich zugleich schockierend und wunderbar berührend. Jede Mutter weiß, wie klein und leicht Neugeborene sind. Doch diese beiden waren noch rund fünf bis sechs mal leichter als Durchschnittsgeborene! Ihre Augen waren noch nicht geöffnet, aber jede Hautfalte war bereits vorhanden. Ein Füßchen war nicht länger als 1cm, ebenso ein Händchen.
Doch für Emotionen war in diesem Moment keine Zeit, denn ich wurde sogleich mit Zahlen bombardiert: Elena wog 600g, war in gestrecktem Zustand 31cm lang und hatte einen Kopfumfang von 23cm. Christina wog gerade mal 570g, war 28cm lang mit einem Kopfumfang von 22cm. Beide waren sie bloß eine Handvoll Kind, wenn sie ihre Beinchen und Ärmchen angezogen hatten, vergleichbar etwa mit der Größe einer Barbiepuppe.
Bei derart kleinen Babys konnten weder am Kopf noch an Armen oder Beinen Infusionen gelegt werden, da schlichtweg keine peripheren Blutgefäße sichtbar waren. In den ersten Tagen bestand zudem die große Gefahr einer spontanen Blutung, insbesondere einer Hirnblutung, was sich fatal auf die Kinder ausgewirkt und weitere lebensverlängernde Maßnahmen in Frage gestellt hätte. Trinken war ebenfalls nicht möglich, und so diente in der Regel eine Magensonde als einziger Zugang zum noch massiv unterentwickelten Körpersystem der Winzlinge. Christina bekundete starke Verdauungsprobleme, so dass ihr weder Nahrung noch Medikamente über den Magen-Darm-Trakt verabreicht werden konnten. Daher wurde ihr bereits am Tag nach ihrer Geburt ein kaum sichtbarer Herzkatheter gesetzt, welcher Infusionslösungen direkt zu den großen Blutgefäßen am Herzen führte – eine bewundernswerte Leistung der heutigen Spitzenmedizin. Für diese äußerst risikoreiche Intervention wurde eigens ein externer Spezialist beigezogen.
Das extrem niedrige Geburtsgewicht von 570g bzw. 600g war ein klares Indiz dafür, dass den beiden Frühchen