Bernadette von Dreien

Christina, Band 1: Zwillinge als Licht geboren


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würden und falls ja, mit welchen Folgeschäden, dies alles war noch nicht absehbar. Sicher war, dass sie erst einmal einige außergewöhnlich schwierige Monate vor sich hatten, in denen sie beide dem Tod näher stehen würden als dem Leben.

      Auch mich holte in der Woche nach der Geburt eine akute Blutvergiftung mit hohem Fieber ein, was eine erneute Hospitalisation erforderte. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz gewöhnte ich mich irgendwie an die tagtäglichen Turbulenzen auf der Intensivstation, mit zwei Babys, die unzählige Untersuchungen überstehen mussten, und mit ständigen Besprechungen und Entscheidungen mit den Ärzten. Der Zustand der Zwillinge wechselte oft von Stunde zu Stunde, von einigermaßen stabil bis zu höchst kritisch. Es war mir klar, dass es einzig und allein an meiner eigenen mentalen Einstellung zu dieser Situation liegen würde, ob ich an dieser herausfordernden Aufgabe bereits nach wenigen Tagen scheitern würde oder ob ich lernen konnte, mit ihr zu leben und die Umstände jeden Tag einfach so zu akzeptieren, wie sie sich gerade präsentierten. Denn ändern konnte ich persönlich beim besten Willen nichts daran. Das Rezept bestand für mich darin, die stabilen Momente zu genießen und die dramatischen ruhig durchzustehen.

      Sowohl als Marathonläuferin als auch als Medizinische Praxisassistentin hatte ich bereits gelernt, mit Extremsituationen umzugehen, was für mich in dieser völlig neuen Lebenssituation nun höchst hilfreich war. Ich wurde mit Ängsten und Ungewissheiten konfrontiert und musste lernen, diese über eine lange Zeit hinweg auszuhalten. Damit relativierte sich so einiges aus meinem bisherigen Leben. Aus dem bloßen Verstand heraus gibt es in solchen Situationen keine tragfähige Bewältigungsstrategie. So lernte ich, zu vertrauen und dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, was in mir erfreulicherweise ein positives Gefühl auslöste. Wie diese Situation letzten Endes ausgehen würde, lag nicht in meiner Hand.

      Wir entschieden, dass ich bis auf weiteres eine kleine Wohnung beziehen würde, die uns vom Kinderspital vermittelt wurde und nur 150 Meter Luftlinie von der Intensivstation entfernt lag. So konnte ich mich zu jeder Tages- und Nachtzeit bei den Mädchen aufhalten. Da die Kinder vorerst über eine Magensonde ernährt wurden, wurde meine Muttermilch täglich zuerst auf Keime untersucht und dann eingefroren für später. Die Mengen, die die Zwillinge aufzunehmen vermochten, beliefen sich anfangs auf lediglich wenige Milliliter pro Tag.

      Das medizinische Personal machte mich gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass solch extreme Frühchen imstande sind, die feinsten Energien wahrzunehmen, dass also jede negative Energie von mir – wie Angst, Stress, Überforderung, Erschöpfung, Resignation usw. – sich umgehend auf die Kinder übertragen würde. Daher rieten sie mir, ohne schlechtes Gewissen die Klinik zu meiden, falls es mir an einem Tag mal schlecht gehen sollte. Umgekehrt nahmen die Kinder aber auch alle positiven Emotionen und Energien durchaus wahr und erkannten die Stimme und die Schritte der Mama deutlich. Solche positiven Stimuli seien, so erklärten mir die Schwestern, für die neuronale Entwicklung der Frühchen höchst bedeutend.

      Dies war eine klare Botschaft, die ich mir noch heute immer wieder zu Herzen nehme. Es lag und liegt mir fern, irgendwelche negativen Energien auf meine Kinder oder generell auf Menschen und andere Lebewesen zu projizieren. Auf mein inneres Gleichgewicht und auf eine positive, vertrauensvolle Grundhaltung zu achten, war somit einer der wenigen aktiven Beiträge, die ich damals für meine Kinder leisten konnte. Alles andere stand außerhalb meiner Macht.

      Mein Leben hatte sich schlagartig verändert. Ich war weg von zu Hause, weg von meinem gesamten vertrauten Umfeld, weg von der Arztpraxis, weg vom eigenen Geschäft, weg von meinem Englischkurs und von allem anderen, das ich zuvor für wichtig gehalten hatte. Alle diese Dinge relativierten sich infolge der neuen Umstände komplett und hatten zu jener Zeit überhaupt keinen Stellenwert und keine Priorität für mich. Mein Leben spielte sich während Monaten nur auf der Intensivstation ab, und es zeigte sich sehr deutlich, wie rasch man sich veränderten Umständen anzupassen fähig ist und wie vieles im Leben völlig neu organisiert werden kann, auch wenn man es zuvor kaum für möglich gehalten hätte.

      Mein unbändiger Glaube daran, dass die Zwillinge ihren Kampf ums Überleben letztlich gewinnen würden, hielt mich aufrecht, wenngleich ich das eine oder andere Mal mit ansehen musste, wie anderen Kindern nebenan die Lebenskraft ausging. Auch Elena und Christina kämpften, abgesehen von ihrer generellen Unterentwicklung, immer wieder mit diversen Komplikationen, deren Behandlung ihrerseits weitere Risiken nach sich zog. So vergingen die ersten Wochen äußerst turbulent.

      Diverse Infekte sowie Kreislauf- und Verdauungsprobleme plagten vor allem Christina, die dadurch nicht an Gewicht gewann und den anfänglich erlaubten Gewichtsverlust von 10% längst dramatisch überboten hatte. In den ersten Wochen sank ihr Körpergewicht von 570g auf 475g. Ich traute mich gar nicht mehr, diese Zahl überhaupt jemandem zu nennen.

      Unter anderem waren auch einige Bluttransfusionen erforderlich. Der hohe Geräuschpegel auf der Intensivstation, dazu die anfänglich viertelstündlichen Blutentnahmen ab der Ferse, das Absaugen der Lungen usw. – dies alles ließ den Winzlingen sehr wenig Ruhe und verschlang zusätzlich wertvolle Lebensenergie. Christinas Hauptprobleme waren ihre unreifen Lungen und ihr unreifer Magen-Darm-Trakt. Sie war länger als Elena intubiert und benötigte auch danach noch monatelang Atemunterstützung. Um überhaupt eine normale Sauerstoffsättigung im Blut zu erreichen, konsumierte sie oft hoch konzentrierten Sauerstoff im toxischen Bereich von 70%, was zu Netzhautschädigungen in den Augen führte. Doch eine Sauerstoffunterversorgung hätte sich noch fataler auf ihren Körper ausgewirkt. Somit schienen spätere Sehstörungen bereits vorprogrammiert.

      Zum Tagesablauf gehörte außerdem das sogenannte «Känguruhen»: Sofern es der momentane Gesundheitszustand zuließ, wurde jeweils eines der Mädchen für eine oder zwei Stunden an meine nackte Brust gelegt, um den Geruch der Mama wahrzunehmen und direkten Hautkontakt zu spüren. Dies war meist eine ziemlich aufwendige Prozedur. Da lag also die Mama, gelegentlich auch der Papa, im Liegestuhl auf der Intensivstation, und Elena oder Christina lagen in Bauchlage auf der Brust, warm zugedeckt und mit sämtlichen Überwachungsgeräten einschließlich dem damit verbunden Kabelsalat. Meistens wurden sie während des Känguruhens ganz friedlich, und ihre Herzfrequenz beruhigte sich. Auch für mich war dies natürlich jedes Mal ein sehr wohltuender und intensiver Moment. Abgesehen davon fanden direkte körperliche Berührungen meist nur über meine Hand statt, die ich durch die kleine Öffnung der Isolette strecken konnte. Allein mit einer Hand vermochte ich eines der Kinder ganz zu bedecken, was ich oftmals während Stunden tat.

      Mai 2001: Elenas Ärmchen mit drei Wochen.

      Nach sieben Wochen waren beide Mädchen einigermaßen stabil. Nun stand ein beständiges Ringen um jedes Gramm Körpergewicht im Vordergrund, denn dies war entscheidend für die weitere körperliche Entwicklung und für das Überleben. Elena profitierte von einer deutlich besseren Ausgangslage. Sie wies eine gut funktionierende Lungentätigkeit auf und wog nach sieben Wochen bereits rund 1500g. Christina hingegen hatte mit merklich mehr Komplikationen zu kämpfen und wog zum gleichen Zeitpunkt erst 1000g, was einen massiven Unterschied zwischen den beiden darstellte.

      Elena hatte also die eindeutig besseren Überlebenschancen, wobei auch sie nach wie vor auf der Intensivstation lag und sich somit näher beim Tod befand als beim Leben.

      Wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod ist, wurde deutlich, als Elena einen Erreger einfing, der eine Hirnhautentzündung und in der Folge davon eine Hirnentzündung (Meningoenzephalitis) auslöste. Diese schwerwiegende Komplikation nach so vielen Wochen war auch für die behandelnden Ärzte überraschend. Weitere Mediziner wurden beigezogen, um die Lage von Elena zu beurteilen. In diesen Tagen träumte ich von der Todesanzeige meiner Tochter Elena und wusste im tiefsten Inneren bereits, dass wir sie verlieren würden.

      Meine bis dahin ungebrochene Hoffnung, dass sich Elena auch von dieser neuerlichen Komplikation erholen würde, wich nun einer unglaublich traurigen Realität. Die Vorstellung, das eigene Kind in den Tod begleiten zu müssen – oder zu dürfen –, ist wohl die größte Schreckensvorstellung einer jeden Mutter, auch für mich. Doch zugleich war mir bewusst, dass dieser Schritt für Elena eine Erlösung sein würde. Irgendwie war es ihr Schicksal oder gar ihre Bestimmung, nur kurz in ihrem kleinen Menschenkörper zu weilen. Das spürte ich