zum Gefechtsstand zurück.
Der Feldwebel war nicht mehr anwesend.
»Er kümmert sich um seine Männer«, sagte der Oberst.
Dann ließ er sich mit dem Divisionsstab verbinden und machte dem ersten Ordonnanzoffizier, O1 genannt, Mitteilung von der neuen Lage.
»Wie es jetzt steht«, setzte er hinzu, »muss ich in Kürze mit einem Angriff auf Pawlowskaja rechnen. Aber ich kann den Angriff nicht abwehren. Ich habe keine Leute. Mit Trossleuten, Sanitätern und meiner Stabskompanie kann ich keinen Krieg führen. Ich bitte um Verstärkung und schlage vor, mit Sturmgeschützen – ihr habt doch welche – gewaltsam aufklären zu lassen, damit festgestellt wird, was in unserem Rücken durchgesickert ist. Ein Spähtrupp ist unterwegs.«
Die Antwort des O1 schien nicht sehr befriedigend zu klingen, denn mit einem zornigen Ausruf beendete der Oberst das Gespräch.
»Ich soll die Stellung am Donez halten«, sagte er nach einer Pause, »aber wenn man etwas anfordert, bekommt man zur Antwort: Fehlanzeige. Dieser Krieg wird mit den Knochen des Infanteristen geführt. Wo sind denn die ganzen technischen Wunder? Wo sind die Stuka, Panzer und was weiß ich? Außer unserer Artillerie haben wir nichts, was wir dem T-34 der anderen entgegensetzen können, und die Artillerie leidet unter chronischem Munitionsmangel.«
Erregt schritt er einige Male in der Stube hin und her, dann hatte er seine Ruhe wieder gefunden. Er setzte sich an den Tisch, stützte die Stirn auf die Hände und starrte unmutig vor sich hin. Ich wusste, wie viel auf ihm lastete und wie schwer er alles nahm.
»In Goroditsche war etwas los«, sagte ich, »aber seit zwei Stunden scheint alles wieder klar zu sein. Ich wollte Herrn Oberst nicht stören.«
Er drehte sich zu mir um, aber ohne ein Wort zu sagen, wandte er sich wieder der Karte zu.
Ich schwieg, denn ich wusste, in solchen Augenblicken vollkommener Konzentration pflegte er seiner Umgebung völlig entrückt zu sein. Die Karte belebte sich für ihn, wurde zur Landschaft, zur Szenerie der jeweiligen Ereignisse. So fasste er seine Entschlüsse.
Aber an diesem frühen Morgen war ihm keine Ruhe zum Nachdenken vergönnt.
Die Haustür wurde geöffnet, und mit einem Strom eisiger Luft kam ein fremder Major herein. Sein Mantel und seine Mütze waren mit einer Schneekruste bedeckt. Er grüßte, nahm Mütze und Kopfschützer ab und meldete sich beim Kommandeur, der aufgestanden war, als Major Moll, dritte Abteilung, Artillerieregiment 60. »Mit Teilen in Pawlowskaja eingetroffen«, fügte er hinzu, mit einer Stimme, die wie gefroren klang. Sein Gesicht war ebenso unnatürlich gerötet wie das des Feldwebels, der die Schlittenkolonne aus Slawiansk herangeführt hatte.
»Was heißt das – mit Teilen, Major Moll?«, fragte Oberst Metzelbrod.
Der Major atmete tief.
»Es heißt«, antwortete er nach einer Pause, »dass meine schwere Batterie noch zwei Geschütze besitzt. Zwei sind durch Volltreffer ausgefallen. Die beiden leichten Batterien haben zusammen sieben. Zwölf Mann habe ich mit Verwundungen und Erfrierungen am Verbandplatz abgeliefert. Meine Gefallenen musste ich zurücklassen, Herr Oberst.«
Der Kommandeur reichte Major Moll die Hand.
»Wie steht es mit Ihrer Munition?«, fragte er, obgleich ihm gewiss nach anderen Worten zu Mute war.
»Rund 50 Schuss pro Geschütz«, erwiderte Major Moll und bat, ihn einzuweisen. Er wollte sogleich in Feuerstellung gehen.
Der Oberst überlegte.
»Nicht zu nahe beim Dorf«, meinte er schließlich, »ich möchte es vermeiden, dass das Feuer auf den Verbandplatz gezogen wird. Die Leute liegen in Watte und Verbänden und können nicht in Deckung gehen. Ich schlage den Bereich der Mühle vor. Dort finden Sie auch Unterkunft für Ihre Kanoniere. Sogar ein Stall für Ihre Pferde ist dort.«
Er ging in die Kammer, holte die Kognakflasche – unsere letzte – und reichte dem Major ein Glas.
Major Moll trank in strammer Haltung. Er war noch jung. Seinem ganzen Gehabe nach hielt ich ihn für einen aktiven Offizier.
»Ah, das tut gut«, sagte er in verändertem Ton, als sei er auf einmal aufgetaut. »Eine Lausekälte, Herr Oberst. Die Kanoniere frieren an den Geschützen fest.« Dann wurde er wieder dienstlich und bat, sich abmelden zu dürfen, denn seine Abteilung stehe draußen im Schnee und hätte nach dem Marsch Ruhe nötig.
Der Oberst entließ ihn mit den Worten, er solle zusehen, bald feuerbereit zu sein, niemand könne sagen, was der Tag noch bringe.
Als die Tür hinter dem Major ins Schloss gefallen war, murmelte Oberst Metzelbrod: »Das also war der Erste …«
Ich fragte ihn, was er damit sagen wolle.
Er blickte mich durch seine runden Gläser an. Das kreidige Licht der Lampe warf seinen Schatten verzerrt auf Fußboden und Wand.
»Emser«, sagte er, »es werden noch andere nach Pawlowskaja kommen. Bald wird das Dorf zu klein sein, um alles unterzubringen.«
Ich wies darauf hin, dies werde im Falle eines Angriffs für die Abwehr nur von Vorteil sein.
Er sagte nichts darauf, sondern wandte sich um und ging hinüber in seine Kammer. Gleich darauf hörte ich, wie er sich ächzend auf sein armseliges Lager warf.
Ich kannte Oberst Metzelbrod schon lange. Es war nicht der Krieg, der uns erstmals zusammengeführt hatte. Wir waren im Juli 38 auf dem Stradun in Ragusa miteinander bekannt geworden. Ich hatte, von Mostar aus, einige Touren in den Karst unternommen und war in Bergschuhen. Auf den Steinquadern des Stradun – dieser steinernen Prachtstraße Ragusas – glitt ich aus, und als ich wieder auf den Beinen war, sagte eine Stimme auf Deutsch: »Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt!« Die Stimme gehörte Oberst Metzelbrod. Damals trug er einen hellen Flanellanzug. Eine Dame stand neben ihm. Beide waren von der Sonne Dalmatiens gebräunt und wirkten jugendlich und unternehmungslustig. Ich stellte mich vor und hörte so zum ersten Mal den ungewöhnlichen Namen Metzelbrod. Die Dame war die Frau des liebenswürdigen Herrn Metzelbrod und Mutter zweier erwachsener Söhne, die ich am Abend im Hotel Imperial kennen lernte, als ich meine neuen Bekannten – diesmal natürlich nicht in Genagelten – aufsuchte, um gemeinsam mit ihnen ein Konzert zu hören. Wir sprachen damals über die Sudetenkrise, und der nachmals reaktivierte Oberst und damalige Major der Reserve befürchtete, seine Ferien könnten ein jähes Ende finden. Im Frühjahr 39, als man den weit gereisten, weltkundigen Mann ins Auswärtige Amt holen wollte, hatte er es vorgezogen, ins Heer zurückzukehren, aus dem er im Jahre 1918 ausgeschieden war.
Im Mai 41 hatte Oberst Metzelbrod mich in sein Regiment gerufen. Wir waren seit jenem Sommer in Ragusa ständig in Briefverbindung geblieben – auch während des Krieges –, und ich war mit Freuden Adjutant bei Oberst Metzelbrod geworden. Zuvor hatte ich als Adjutant eines Gebirgsjägerbataillons am Feldzug auf dem Balkan teilgenommen. 1940, in Frankreich, war ich noch Feldwebel bei der Infanterie gewesen und Mitte Juni bei Suippe verwundet worden.
Als ich zu Oberst Metzelbrods Regiment stieß, hatte es in Zelten in Polen unweit des San biwakiert. Frau Metzelbrod hatte mir damals geschrieben, ich solle auf ihren Mann und auf Erich, den Sohn, der ihr noch geblieben war, achten. Und dann waren wir in Russland oder vielmehr in dem von den Russen besetzten Polen einmarschiert, hatten westlich Szarogrod die Stalinlinie überwunden und waren marschierend und kämpfend immer weiter nach Osten vorgedrungen. Die Stadt Tultschin, der ukrainische Bug – Stationen unseres Vormarsches. Wo der Feind uns aufhielt – und er hielt uns häufig auf mit starken Nachhuten, die seinen eiligen Rückzug deckten –, hinterließ das Regiment Gräber. Zuweilen waren es zwei oder drei, an manchen Orten aber lange Reihen. Kreuze mit einem Namen am Saum eines Sonnenblumenfeldes oder eines Dorfes, dessen Bewohner uns nach dem Abzug der Rotarmisten wie Freunde begrüßten.
Dann kam Uman. Zum ersten Mal war das Regiment an einer Kesselschlacht beteiligt, die mehr als 100 000 Gefangene mit einem Arsenal an Beutewaffen, Fahrzeugen und sonstigem Kriegsgerät einbrachte. Aber auch wir hatten Verluste zu beklagen. Wir waren weiter marschiert – nach Kirowograd und