In einem Sonderzug nach Frankreich
Unsere Kompanie im Gelände
Ich möchte an dieser Stelle aber nur wenig von der Zeit im Reichsarbeitsdienst, der relativ kurzen Zeit der Grundausbildung und dem anschließenden Kriegseinsatz sprechen, denn im Nachhinein betrachtet war dies überwiegend eine furchtbare Phase in meinem Leben, die ich immer wieder zu verdrängen versuche, weil wir eigentlich so vielen Menschen Leid zugefügt haben. Unschuldigen Menschen, in deren Land wir eingedrungen sind, ohne dass es einen wirklichen Grund dafür gegeben hat.
Nach der Grundausbildung wurde ich im Jahr 1940 dem gerade neu aufgestellten 306. Infanterie-Regiment zugeteilt. Das bedeutete, dass wir mit einem Sonderzug nach Frankreich in die Normandie gefahren wurden. Die Aufgabenstellung war im Wesentlichen Sicherung der Besatzungszone im Nordwesten des Landes und gleichzeitig Abwehr von eventuellen alliierten Angriffen.
Mit innerer Spannung fuhren wir Richtung Paris. Wir, der wir noch nie aus unserem direkten Umfeld herausgekommen sind. Endlich hinaus in die große, weite Welt. Mit Deutschland ging es offensichtlich steil bergauf. Natürlich waren wir von dieser Entwicklung zunächst begeistert, und von der Position, die wir plötzlich innehatten. Vom Polstererlehrling bin ich auf einmal »Herr über Frankreich« geworden. So fühlte ich mich wenigstens.
Unser Ziel war Caen, eine schöne Stadt im Département Calvados im Nordwesten von Frankreich. Stationiert waren wir in Verson, einem Dorf, das sieben Kilometer im Westen von Caen lag. Wir patrouillierten in der Stadt, die wir besetzt hatten wie den gesamten Norden Frankreichs.
Flakstellung bei Caen
Vor der Stadt hatten wir im Gelände einige Flakstellungen aufgebaut, um von England herannahende Bomber abzuwehren. Einmal gelang es uns, ein solches Vögelchen vom Himmel zu holen. Da und dort war Widerstand zu verspüren, wir verloren einige Kameraden, die von Partisanen aus dem Hinterhalt erschossen worden sind. Aber ansonsten hatten wir im Wesentlichen ein geruhsames Leben. Die Monate verstrichen wie im Flug, und vom Schicksal vieler Kameraden in Russland erfuhren wir zwar, aber wir verdrängten es. Russland war ja weit weg.
Von einer Flak abgeschossenes Flugzeug
Irgendwann einmal erwischte es mich: Ein Granatsplitter traf mich im Frühjahr 1943 in den Rücken. Keine allzu dramatische Sache. Aber ich musste ins Lazarett. Der Zug brachte mich nach Wiesbaden, wo mir der Splitter entfernt wurde. Die Wochen der Genesung in Wiesbaden waren eigentlich im Rückblick die schönsten für mich während der gesamten Zeit des Krieges. Ruhe, kein Krieg weit und breit, beste Betreuung von den sympathischen Krankenschwestern. Da hätte man sich schon verlieben können.
In unserem Lazarett in Wiesbaden
Beste Stimmung im Lazarett in Wiesbaden
Mittlerweile war die Situation in Stalingrad eskaliert, die Einheiten dort erheblich dezimiert, wenn nicht sogar vernichtet. Zur Verstärkung sind deshalb schon vor einigen Monaten Einheiten unserer 306. Infanterie-Division angefordert worden. Bedauerlicherweise wurde ich im Sommer 1943 wieder als einsatzfähig betrachtet und erhielt den Befehl, nach Osten zu meinen Kameraden zu fahren, nach Russland an die Front. Dass viele von ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr am Leben waren, konnte ich nicht ahnen.
Mit dem Zug ging es in Güterwaggons ostwärts. Obwohl unser deutsches Reich eigentlich schon durch die vielen Fliegerangriffe fast vollständig kaputt war. Auf dem Weg herrschte großes Tohuwabohu, immer wieder einmal Fliegerangriffe, raus aus dem Zug, in Deckung, dann wieder rein und weiter ging’s, Richtung Kaukasus. Dort kamen wir aber nie an, denn die Russen drängten uns mit Macht zurück. Im Kanonendonner und ihm Heulen der Granaten ging es fluchtartig zurück nach Westen. Immer wieder versuchten wir, die Stellung zu halten, aber die Kampfkraft der Russen war einfach zu groß. Lange, elende Monate vergingen in der grausamen Kälte des russischen Winters, aber auch in der gnadenlosen Hitze eines subtropischen Landes, ohne einigermaßen gute Versorgung, ständigen Angriffen ausgesetzt.
Jedem von uns war nach dem Winter 1944/45 klar, dass das Ende des Krieges gekommen war, dass wir einfach keine Chance mehr hatten. Es ging einfach nur noch ums Überleben und um die Frage, wann wir in Gefangenschaft geraten und vor allem von wem wir gefangen genommen würden. Von den Russen oder den Amerikanern, wobei die Russen gefürchteter waren. Also mussten wir so weit es ging nach Westen gelangen, in ein von den Amerikanern besetztes Gebiet. Denn bei den Russen schwangen noch die grausamen Erlebnisse mit, die sie mit den deutschen Soldaten verbanden. Schließlich sind wir ja in ihr Land eingedrungen, haben viele Menschen erschossen, von Vergewaltigungen war die Rede, von unsäglichem Leid, das wir über ihr Land gebracht haben.
Brennender Panzer
Also versuchten wir, in der Nacht zu marschieren, suchten am Tag Zuflucht in irgendeinem Wald und ernährten uns von irgendetwas, das wir bekommen konnten. Weiter, immer weiter nach Westen, der untergehenden Sonne nach. Wir schafften es tatsächlich, bis in die Tschechoslowakei zu gelangen, in unserer abgerissenen Kleidung, mit Stoppelbärten, dreckig, verschwitzt, verlaust, einfach kaputt, nicht nur körperlich, auch seelisch. Keiner wusste, wie es weiterging. Wir wollten nur noch nach Hause. Der Weg war unendlich lang und führte durch Länder, deren Bewohner uns hassten.
9. Mai 1945
Irgendwann ist es dann so weit. Es musste ja so kommen. Und leider haben wir in diesem Moment Deutschland noch nicht erreicht. Wir stehen, eine lange Kolonne von Fahrzeugen mit Flüchtlingen, Kindern und Soldaten, inmitten der Tschechei und können nicht weiter, weil uns zwei russische Panzer den Weg nicht freigeben. Ab und zu schießen sie über unsere Köpfe hinweg, um uns Angst einzujagen. Ein deutscher Major geht die Wagenkolonne entlang und fordert uns auf, mit Panzerfäusten einen Angriff zu machen, um die Panzer zu beseitigen. Keiner hat Lust, keiner folgt dem Befehl. Die Leute fluchen und schreien. Sie empfehlen dem Major, mal bei den jungen Leutnants zu fragen, die sich den halben Krieg lang auf der Waffenschule herumgedrückt haben.
Eine Frau auf meinem Fahrzeug weint und sagt: »Das sind unsere Soldaten, auf die wir einmal so stolz gewesen sind.« Ich werde rot vor Scham, aber ich bin ja auch nicht besser als die anderen und will nichts mehr riskieren.
Tatsächlich haben sich ein paar Leutnants zusammengefunden, die den Angriff mit Panzerfäusten wagen wollen. Sie gehen nach vorne, aber der Panzer muss etwas gemerkt haben. Er schießt nun mit Kanone und MG, was das Zeug hält. Es dauert auch nicht lange, bis die Offiziere wieder ohne Waffen angelaufen kommen und schon von weitem rufen: »Der Panzer greift an!«
Die vorderen Wagen, auf die der russische Panzer zuerst stoßen muss, versuchen umzukehren, was aber bei der schmalen Straße nicht geht. Rücksichtslos wird vor- und rückwärts gefahren. Es gibt eingestoßene Kühler, verbeulte Kotflügel und Knochenbrüche. Andere versuchen auf der abfallenden Wiese links der Straße umzukehren, aber auch da geht es nicht. Die Wiese ist zu steil, die Fahrzeuge kippen und fangen zum Teil zu brennen an. Es gibt die ersten Toten und Verletzten nach dem Krieg. Alles schreit durcheinander, einer sucht den anderen. Zu guter Letzt bekommen wir aus der Ortschaft von den Tschechen Gewehrfeuer. Jetzt ist alles aus. Jeder sucht noch schnell sein sogenanntes »Fluchtgepäck«, seine Freunde, und ab geht der ganze Haufen zu Fuß nach Westen.
Ich bin mit einem Freund und mit einer Mutter