Thomas Prinz

Der Unterhändler der Hanse


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oder einem anderen Baumwollstoff, wie man ihn in den Vierteln der Handwerker sah. Sie hatte sich bei Reinekin Kelmer untergehakt, und der Mann hinter der Armbrust fragte sich, in welcher Beziehung sie zu dem Lübecker stehen mochte. Und wo konnte der Einäugige sein, der sonst immer bei Kelmer war?

      Der Schütze hatte sein Ziel deutlich im Visier, aber noch war die Gruppe zu weit entfernt für einen sicheren Schuss. Kelmer war im Gespräch mit dem Bürgermeister. Beide schienen guter Dinge zu sein. Die Stimme des Bürgermeisters war bis in das Lagerhaus zu hören. Er lachte laut, und Kelmer grinste mit einem zustimmenden Kopfnicken. Er hatte ein sympathisches Gesicht, und der Schütze bedauerte, dass es nicht den Bürgermeister oder einen der beiden eitlen Gecken in seinem Gefolge treffen sollte. Aber dafür wurde er nicht bezahlt. Sein Auftrag war eindeutig: Reinekin Kelmer sollte er töten, und das war seinem Auftraggeber eine schöne Summe wert gewesen. Die Hälfte des Geldes hatte er bereits eingesteckt, und die andere sollte er nach Ausführung seines Auftrags erhalten. Das Geld würde ausreichen, um ein paar Jahre ein sorgenfreies Leben zu führen, selbst wenn er einen Teil davon an einen Priester würde bezahlen müssen, um für seine Tat die Absolution zu erhalten. Für zwanzig lübische Mark musste ein Söldner normalerweise ein ganzes Leben lang arbeiten, und selbst sein verhasster Vater, der Burgmann in Bremen gewesen war, hatte nur fünf Mark im Jahr erhalten. Er hatte immer vorgehabt, nach Bremen zurückzukehren und den Alten – bevor er ihn umbringen würde – wissen zu lassen, zu welchem Reichtum er es gebracht hatte. Das ging nicht mehr, denn der Alte war tot. Über ihn brauchte er sich den Kopf nicht mehr zu zerbrechen. Das Einzige, was ihm in den letzten Tagen Sorge bereitet hatte, war die Frage, ob er seinem Auftraggeber vertrauen konnte und tatsächlich die zweite Rate ausgezahlt bekommen würde. Bei dem zuletzt vereinbarten Treffen vor fünf Tagen war der Mann nicht erschienen, und zudem hatte er bei dem letzten Treffen darauf gedrängt, dass der Auftrag vor Christi Himmelfahrt ausgeführt werden müsse. Christi Himmelfahrt lag drei Tage zurück, aber was machte das für einen Unterschied? Er würde sein Geld erhalten, denn er hatte Erkundigungen über seinen Auftraggeber eingezogen und wusste, wo er den Mann zu finden hatte, falls die Zahlung ausblieb. Und bislang hatten noch alle gezahlt – schon aus Angst vor seiner tödlichen Kunst. Dies war sein letzter Auftrag, so hatte er sich vorgenommen. Danach wollte er ein neues Leben beginnen mit der Frau, die ihm in den letzten Wochen Liebe und Geborgenheit geschenkt hatte.

      Die Gruppe um Reinekin Kelmer und den Stralsunder Bürgermeister erreichte den Kai an der Stelle, an der die Schute festgemacht hatte. Albert Puster hatte den Finger am Abzug der Armbrust. Mit leichtem Druck würde er den Bügel gegen den Schaft heben. Die Nuss würde sich senken, die Sehne frei geben und den Bolzen mit ungeheurer Wucht ins Ziel schleudern. Er zielte auf die Brust des Lübeckers. Der Zeigefinger seiner rechten Hand fühlte die Spannung des Abzugs. Der Lübecker verneigte sich vor der Frau mit dem Schmetterlingshut, ging auf die jüngere mit dem dicken Bauch zu, schüttelte ihr die Hand, und dann war der Sohn des Bürgermeisters an der Reihe. Albert Puster zögerte. Der Mann mit dem Schwert war in die Flugbahn des Bolzens getreten. Auch er verabschiedete sich. Kelmer umarmte den Bürgermeister, sein Rücken hätte ein perfektes Ziel geboten, aber die Schwangere kam in die Quere, ging auf die Frau an Kelmers Seite zu und drückte ihr die Hand. Kelmer stand in der Mitte der Gruppe. In der Abschiedszeremonie war zu viel Bewegung, aber irgendwann würde er sich lösen müssen. Einen guten Schützen zeichnete genau diese Geduld aus, die es brauchte, um den sicheren Schuss zu setzen. Nur dafür wurde er bezahlt, und er hatte nur einen Schuss. Zum Nachladen würde keine Zeit bleiben. Jetzt traten die beiden reichen Frauen zurück. Der Bürgermeister und sein Sohn standen an der Kaimauer, der Bootsmann streckte eine Hand aus und half der Frau an Kelmers Seite in die Schute. Sie kehrte dem Schützen den Rücken zu. Kelmer sprang auf das andere Ende des Lastkahns, der leicht schaukelte. Albert Puster zielte über den Kopf der Frau und hatte Kelmers Brust im Visier. Der Schuss würde tödlich sein. Der Schütze hielt den Atem an. Die Armbrust lag warm in seinen Händen. Er genoss diesen Sekundenbruchteil zwischen dem Entschluss, jetzt zu schießen, dem Drücken des Metallbügels gegen den Schaft und dem satten Geräusch, wenn sich die Sehne entspannte, den Bolzen über dem Lauf aus feinstem Eibenholz beschleunigte und ihn auf seinen unaufhaltsam tödlichen Weg sandte. Er genoss diesen Augenblick der Entscheidung genauso wie beim ersten Mal, als er den Bolzen auf den Weg geschickt hatte, der den Hals seines Bruders durchschlug.

      KAPITEL 1 • LÜBECK, IM NOVEMBER 1369

      »Um mancherlei Unrecht und Schaden, den die Könige dem gemeinen Kaufmann tun und angetan haben, wollen die Städte ihre Feinde werden und eine der anderen treulich helfen. – So haben wir es zu Köln im Jahre des Herrn 1367 beschlossen, und heute, gut zwei Jahre später, sind wir am Ziel, liebe Freunde. Der große dänische König, Waldemar Atterdag, liegt am Boden. Kopenhagen ist zerstört, und die ganze dänische Küste hinauf bis nach Norwegen haben sich die Städte und Festungen ergeben. Waldemar Atterdag bittet uns, die hansischen Städte, um Frieden.« Balthasar Grevenrode, der grauhaarige Lübecker Bürgermeister, hielt inne und blickte in die Runde der an die hundert Ratsherren. In die Stille brach ein zunächst verhaltener, dann anschwellender und schließlich donnernder Applaus.

      »Hoch lebe die Hanse«, rief ein Wismarer Ratsherr. »Hoch lebe die Hanse«, schallte es aus hundert Mündern zurück.

      Balthasar Grevenrode genoss den Triumph. Für Lübeck hatte in diesem Krieg viel auf dem Spiel gestanden, und zwei seiner Vorgänger hatte die Auseinandersetzung mit den Dänen den Kopf gekostet. Für Johan Wittenborg galt dies im wahrsten Sinne des Wortes. Er war nach verlorenem Kampf gegen die Dänen vor sechs Jahren in Lübeck geköpft worden, und Brun Warendorp war in der Schlacht gefallen. Balthasar Grevenrode streckte besänftigend beide Hände aus und versuchte, sich Gehör zu verschaffen.

      »Liebe Freunde«, rief er in den großen Saal des Lübecker Rathauses. »Liebe Freunde, nach dem großen Sieg gilt es nun, einen gerechten Frieden zu schließen. Deshalb haben wir, der Rat der Stadt Lübeck, Euch hergebeten. Sobald die Winterstürme vorbei sind und die Ostsee wieder sicher befahrbar ist, wird Waldemar Atterdag eine Delegation entsenden, um die Bedingungen eines gerechten Friedens auszuhandeln.«

      »Die Dänen sollen bluten«, rief der Bremer Ratsherr Rudolf Sudermann.

      »Richtig, sie sollen bezahlen, doppelt und dreifach«, stimmte ein Hamburger Kaufmann ein, der trotz seines fortgeschrittenen Alters ein modisches rot-blaues Wams trug und dessen Schnabelschuhe mit Abstand die längsten waren, die man je im Lübecker Rathaus gesehen hatte. Der Saal applaudierte erneut. »Wir haben an die achtzig Koggen bemannt und bewaffnet. Wir können jede dänische Stadt ausquetschen bis auf den letzten Pfennig. Sie sollen zahlen, sie, ihre Kinder und Kindeskinder, und wenn sie nicht zahlen, werden wir sie plündern.« Der Hamburger schlug mit der Faust auf den Tisch.

      Dann erhob sich Bertram Wulflam, der Bürgermeister von Stralsund, und wartete, bis der Saal sich beruhigt hatte. Wulflam war einer der reichsten Kaufleute an der Ostseeküste, ein untersetzter Mann mit grauem Vollbart, kurzem Hals und einer platten, breiten Nase.

      »In dieser Stunde des Triumphs dürfen wir nicht übermütig werden«, nuschelte er. »Zehn Jahre Krieg sind nicht nur uns teuer zu stehen gekommen. Auch die dänischen Städte haben darunter gelitten. Wenn wir die Dänen schröpfen bis zum letzten Pfennig, wird der Handel nicht wieder auf die Beine kommen. Vor dem Krieg habe ich jedes Jahr an die vierzig Schiffsladungen nach Schonen und Kopenhagen geliefert, Salz, Bier, Wein, Malz, und habe Heringe und Kabeljau eingehandelt. Das Geschäft liegt seit zehn Jahren danieder. In Süddeutschland können kaum mehr die Fastengebote eingehalten werden, weil es keinen Fisch mehr gibt. Es muss unser Ziel sein, sobald als möglich wieder dahin zu kommen, wo wir vor dem Krieg waren.«

      »Auch wir haben Verluste erlitten«, widersprach der Hamburger. »Wir haben alle den Pfundzoll entrichtet auf jedes Schiff, das unsere Häfen verließ, damit wir den Krieg gegen die Dänen finanzieren konnten. Habt Ihr vergessen, wie niederträchtig Waldemar vor zehn Jahren unsere Freunde in Visby überfallen und geplündert hat, habt Ihr vergessen, dass wir 1362 unsere Flotte vor Helsingborg verloren haben? Jetzt sollen sie uns entschädigen, und wenn sie nicht freiwillig zahlen, dann werden wir uns das Unsrige holen.«

      »Soweit ich mich erinnere, hat Hamburg nicht ein einziges Schiff für den Krieg