sie dicht bei Euch.«
»Ich mache mir mehr Sorgen um Reinekin als um mich.«
»Es war ein schwerer Tag für ihn«, sagte der Pater. »Aber es wird wieder werden. Das Trauerjahr ist jetzt vorbei. Verzeiht, Balthasar, aber Euer Schwiegersohn sollte wieder heiraten.« Balthasar Grevenrode schwieg.
»Auch wegen der Kinder«, ergänzte der Mönch.
»Es schmerzt, aber ich werde ihm keine Steine in den Weg legen«, sagte der Bürgermeister leise.
»Wie steht es um seine Geschäfte?«, fragte der Pater.
»Es läuft mehr schlecht als recht. Den Wein kriegen wir dieses Jahr nur, weil Niccolò die Lieferung losgeschickt hat, obwohl keine Bestellung vorlag. Reinekin hatte es einfach vergessen«, sagte Pietro.
»Und das Haus ist ständig von Bittstellern umlagert. Ich habe gehört, dass er sogar Swartekop Geld gegeben hat«, ergänzte Balthasar Grevenrode.
»Verehrter Bürgermeister, Mildtätigkeit ist keine Sünde.«
»Fünfzig Mark für einen bankrotten Zimmermann«, empörte sich Balthasar Grevenrode.
»Swartekop ist kein einfacher Zimmermann. Er baut die besten Schiffe an der Ostsee. Gut, ich habe von Schiffen keine Ahnung, aber Reinekin ist überzeugt davon«, versuchte Pietro seinem Freund zur Hilfe zu kommen.
»Swartekop war einmal ein guter Zimmermann, bevor er angefangen hat zu saufen. Und dann hat er Reinekin den Floh mit diesem riesigen Frachtschiff ins Ohr gesetzt. Dabei weiß jeder, dass es natürliche Grenzen für ein Schiff gibt. Das Schiff, das Reinekin mit Swartekop bauen will, ist jedenfalls viel zu groß und zu instabil für unser Meer, und deshalb wird es im ersten Sturm untergehen. Es geht nichts über unsere Koggen.«
»Ich verstehe davon nichts. Mir ist schon zum Kotzen, wenn ich ein Schiff nur sehe, aber im Mittelmeer haben wir diese großen Schiffe auch. Die Kraweelen haben drei Masten, sind schneller als Koggen, und ihr Laderaum ist mehr als doppelt so groß. Reinekin sagt, Swartekops Idee ähnele den Kraweelen und sei genial.«
»Herausgeworfenes Geld ist das. Und Schlechtriemen hat er die Parte eines Schiffes erstattet, das vor Gotland gekapert wurde.«
»Das stimmt so nicht.« Jetzt schaltete sich der Pater ein. »Wir haben lange darüber gesprochen. Schlechtriemen erhält Geld aus einer, äh, wie nennt Reinekin es?«
»Versicherung«, warf Pietro ein.
»Versicherung, genau. Man zahlt einen regelmäßigen kleinen Betrag ein, und wenn etwas passiert, erstattet Reinekin das Geld für den gesamten Schaden.«
»So einen Unsinn habe ich noch nie gehört.«
»Wir haben es im Kloster durchgerechnet. Wenn zwanzig Kaufleute mitmachen, kann jedes Jahr der Verlust einer Parte ersetzt werden.«
»Und wer macht bei solch einem Mist mit?«
»Bislang nur Schlechtriemen, aber vielleicht wird die Idee sich ausbreiten«, sagte Pietro, obwohl er selbst nicht daran glaubte.
»Hätte er Renten gekauft, Parten oder Grund, dann …«
»Na, zerreißt Ihr Euch das Maul über die Versicherung?« Reinekin setzte sich zu seinen Gästen. »Heute haben Möhlmann und Sackse gezeichnet.«
»Und wenn die eine Parte verlieren, musst du sie auch bezahlen?« Balthasar schaute seinen Schwiegersohn skeptisch an.
»Genau das werde ich tun. Und spätestens dann werden alle, die noch Zweifel haben, mitmachen und einzahlen.«
»Ein Kaufmann muss sein Risiko selbst tragen«, sagte der Bürgermeister mit Überzeugung.
»Du kannst das, Balthasar, und ich und vielleicht noch zehn andere in Lübeck. Aber was ist mit Leuten wie Schlechtriemen, die nur zwei Parten besitzen? In zwei, drei Jahren wird in Lübeck niemand mehr in ein Armenhaus gehen müssen, weil Piraten oder ein Sturm sein Schiff genommen haben.«
Der Nachtwächter rief bereits die elfte Stunde aus, als Reinekins Gäste sich verabschiedeten. Balthasar Grevenrode ging, umringt von seiner Wache, vom Kohlmarkt durch die Breite Straße zum Koberg, wo sich gegenüber dem Heilig-Geist-Hospital eine Reihe mit prächtigen Giebelhäusern befand. Wer hier wohnte, gehörte zu den alten Kaufmannsgeschlechtern Lübecks. Es war ein schwerer Tag für Balthasar Grevenrode gewesen: der Kirchgang zum Gedenken an seine Tochter Johanna, die heute vor einem Jahr bei der Geburt ihres dritten Kindes gestorben war, der zerstörte Reinekin, die weinenden Enkelkinder, die Verantwortung für die Familie und die Stadt, und bei all dem blieb kaum Zeit für die eigenen Gefühle. Es war gut, dass es begonnen hatte zu regnen, denn so konnte die Wache die Tränen des alten Mannes nicht sehen.
KAPITEL 5
Langheinrich und seine Kutscherkollegen waren dabei, das Trinkgeld des Fremden auf den Kopf zu hauen. Bei den ersten zeigte das Lübecker Starkbier bereits seine Wirkung, und Langheinrich bestellte die nächste Runde in der Schenke »Hinter dem Burgtor«, und für den großen blonden Wachmann, der die Schenke betrat, bestellte er gleich mit.
»Und einen Humpen für den fleißigen Torwächter. Während wir Fuhrleute uns über matschige Straßen quälen dürfen, müssen die Torwächter in der warmen Stube sitzen und würfeln.«
Die Fuhrleute lachten.
»Schön wär’s. Vor lauter Wachdienst weiß ich bald nicht mehr, wie meine Braut aussieht. Seit heute schieben wir wieder Doppelschichten.«
»Was ist passiert?«
»Wir suchen einen Mann, der den Bürgermeister umbringen will.«
»Wer soll das sein?«
»Wissen wir nicht.«
»Wie sieht er aus?«
»Wissen wir nicht.«
»Na, dann Prost.« Der Fuhrmann hob seinen Humpen. »Auf dass ihr seiner bald habhaft werdet.«
Langheinrich trank und dachte für einen kurzen Moment an den auffälligen Wegbegleiter mit dem Narbengesicht, der sich nach dem Bürgermeister erkundigt hatte und dann in die entgegengesetzte Richtung gegangen war, in der seine Schwester angeblich lebte. Der Mann war ihm nicht sympathisch gewesen, und seine Geschichte hatte wenig überzeugend geklungen: Heringe für einen Nürnberger Kaufmann abholen. Wie einer, der Lesen, Schreiben und Rechnen konnte, hatte der Mann jedenfalls nicht ausgesehen. Langheinrich verwarf den Gedanken, dem Wachmann von dem Wegbegleiter zu berichten, zunächst, aber als die nächsten Biere getrunken waren, lockerte sich seine Zunge, und er erzählte seine Geschichte dem Torwächter.
KAPITEL 6
Albert Puster hatte einen dreckigen, zerrissenen alten Mantel angezogen und sich auf die Stufen der Marienkirche gesetzt. Es war die mächtigste Kathedrale, die er je gesehen hatte. Die gewaltigen Doppeltürme ragten über hundert Meter hoch in den Himmel. Albert Puster hasste Kirchen – nicht nur weil er sich in den riesigen Hallen noch kleiner fühlte, als er ohnehin schon war. Es war vor allem der Gedanke an das Fegefeuer, der ihn erschaudern ließ, wann immer er ein Gotteshaus betrat. Aber auch das Fegefeuer konnte nicht schlimmer sein als seine Kindheit im Hause seines Vaters, und der Teufel trug vielleicht das Antlitz des Bremer Burgmanns.
Neben ihm saßen ein beinloser Krüppel auf einer Strohmatte, der unablässig Psalmen rezitierte, und ein Blinder, der schweigend die rechte Hand ausstreckte. Als der Krüppel zum Gott weiß wie vielten Mal mit ›Der Herr ist mein Hirte. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser …‹ begann, erwog Albert Puster, dem Mann auf der Stelle ein Messer zwischen die Rippen zu rammen. Alberts Vater hatte immer Psalmen gebetet, wenn er seinem Sohn das Fell gerbte. Alberts ältere Brüder Vicko und Dierk hatten vor dem Essen Psalmen gebetet – zum Wohlgefallen des Alten. Und jetzt dieser Krüppel. Albert Puster spürte das Messer in seiner Manteltasche. Er sah seinen Vater vor sich, wie er die Gerte nahm, und es