dass der umfangreiche Kenntnisstand zu den Grundlagen, der Klinik, der Therapie und dem Verlauf von ADHS nach einer synoptischen Darstellung verlangte, um vor allem für die Versorgung Erkenntnisse zu vermitteln und handlungsanleitend zu wirken. In den 32 Kapiteln dieser Erstauflage mit den Schwerpunkten bei Grundlagen, Ätiologie und Pathophysiologie, Klinik, Untersuchung sowie Therapien wurde bereits berücksichtigt, dass ADHS zwar als Neuro-Entwicklungsstörung mit Frühbeginn im Kindesalter konzipiert ist, zunehmend aber unter der Perspektive der Lebensspanne auch als eine den Erwachsenen betreffende Störung betrachtet werden muss. So hatte sich nicht nur die Forschung beträchtlich auf die Erfassung zahlreicher Facetten von ADHS bei Erwachsenen ausgeweitet, sondern die klinischen Probleme der betroffenen Erwachsenen wurden zunehmend auch in der Erwachsenenpsychiatrie und -medizin sowie psychosozialen Versorgung wahrgenommen und vielerorts mit speziellen Schwerpunkten für die Erkennung und Behandlung von ADHS in dieser Altersgruppe aufgegriffen. Diese Entwicklung hat in der jüngsten Zeit sogar zu der Frage geführt, ob es neben der aus dem Kindes- und Jugendalter persistierenden ADHS auch eine Variante mit später Manifestation vielleicht sogar erst im Erwachsenenalter gibt.
Die vorliegende 2. Auflage des Handbuchs ADHS trägt dieser Entwicklung in verstärktem Ausmaß Rechnung. Während die großen Schwerpunkte des Buches in ihrer Struktur erhalten wurden, unterscheidet sich die vorliegende Auflage von ihrer Vorgängerin vor allem durch eine Ausweitung der Gesamtzahl der Kapitel, die insbesondere durch die Vertiefung verschiedener Aspekte von ADHS im Erwachsenenalter bedingt sind. Unter den nunmehr 40 Kapiteln befinden sich zehn Kapitel, die mit dieser Intention neu in das Handbuch aufgenommen wurden. Während die Schwerpunkte zu den Grundlagen sowie der Ätiologie und Pathophysiologie in ihrer Gesamtkonzeption unverändert blieben, in den einzelnen Kapiteln aber grundlegend überarbeitet und aktualisiert wurden, mussten die Schwerpunkte Klinik und Untersuchung sowie Therapien durch zusätzliche Kapitel beträchtlich ausgeweitet werden. Entsprechend wurden einige Inhalte jeweils parallel zur Darstellung für das Kindes- und Jugendalter auch separat in Kapiteln für das Erwachsenenalter erarbeitet. Dies betrifft die Komorbidität, das klinische Interview, Fragebögen und Beurteilungsskalen, die Differentialdiagnose und die Pharmakotherapie. Mit spezieller Akzentsetzung für das Erwachsenenalter wurden ferner Kapitel zur Psychoedukation und Psychotherapie und zur körperlichen Aktivität aufgenommen und in einer übergreifenden Betrachtung jeweils die Aspekte der integrativen klinischen Beurteilung sowie der integrativen klinischen Versorgung behandelt. Zusätzlich wurden die Aspekte der Transition und der Selbsthilfe jeweils in neuen Kapiteln abgehandelt.
Mit der Ausweitung des Gesamtumfanges dieses Handbuches wurde der Kreis der Herausgeber auch im Sinne einer transgenerationalen Kooperation ergänzt und zusätzlich zu den Autoren der Erstauflage eine beträchtliche Zahl von neuen Beiträgern mit besonderer Expertise in der Forschung und Versorgung des ADHS im Erwachsenenalter für die Mitarbeit gewonnen. Allen, die als Beiträger und auch als Verlagsmitarbeiter zum Gelingen dieses Werkes beigetragen haben, sagen wir unseren tief empfundenen Dank. Wir übergeben dieses Handbuch unserer interessierten Leserschaft in der Hoffnung, dass die gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse im Umgang mit Menschen, die von ADHS betroffen sind, hilfreich und förderlich sein mögen.
Zürich, Köln, Hamm, Bonn und Göttingen im Juni 2020
Hans-Christoph Steinhausen
Manfred Döpfner
Martin Holtmann
Alexandra Philipsen
Aribert Rothenberger
1 Zur Geschichte der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung1
Aribert Rothenberger und Hans-Christoph Steinhausen
Offensichtlich konnte die Trias von allgemeiner motorischer Unruhe, mangelnder emotionaler/kognitiver Impulskontrolle und Unaufmerksamkeit/Ablenkbarkeit bei Kindern schon vor Jahrhunderten beobachtet werden, zumal jeweils bestimmten Personen in der Geschichte – z. B. Alexander dem Großen, Dschingis Khan und Thomas Alva Edison – ähnliche Verhaltensweisen zugeschrieben wurden (Resnick 2000). Die Zusammenschau der genannten Merkmale führte über die Jahre immer wieder zu verschiedenen diagnostischen Bezeichnungen. Obgleich derzeit die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und die Hyperkinetische Störung (HKS) die zeitgemäßen und zugleich sehr populären diagnostischen Zuordnungen sind, tauchen sie im geschichtlichen Verlauf der Diagnostik und Klassifikation kinderpsychiatrischer Störungen erst relativ spät auf, wie der in Tab. 1.1 dargestellten Zeitleiste entnommen werden kann. So enthält die letzte Ausgabe des klassischen amerikanischen Lehrbuches für Kinderpsychiatrie von Leo Kanner (1957) keinen Hinweis auf Hyperaktivitätsprobleme als eigenständige diagnostische Einheit.
In Europa hingegen war die hyperkinetische Störung schon früh erkannt worden; so wurde z. B. im Lehrbuch zur allgemeinen Psychiatrie von Hoff (1956) auf die Störung Bezug genommen. Wenngleich in den letzten Jahren der Eindruck entstanden sein mag, dass die Hyperaktivitätsstörung ein typisch amerikanisches Phänomen sei, belegt die Geschichte hinsichtlich der Erkennung und Bezeichnung andere Fakten. Kramer und Pollnow publizierten bereits 1932 eine empirische Arbeit zu einer »Hyperkinetischen Erkrankung des Kindesalters« und Göllnitz (1954, 1981) gebrauchte bereits sehr früh in der DDR häufig die Diagnose einer »Dextro-Amphetamin-Antwortstörung« und meinte damit, dass es Verhaltensauffälligkeiten gibt, die sich nach der Gabe von Dextro-Amphetamin bessern.
Die gegenwärtige Konzeptualisierung der Störung stellt wahrscheinlich wieder nur eine bestimmte Phase im Rahmen der komplexen und von Variationen geprägten Entwicklungsgeschichte dieses Störungsbildes dar. Man kann aber über die vielen Jahre erkennen, dass es phänomenologisch immer wieder um die Abgrenzung von gestörtem Sozialverhalten einerseits und hypermotorisch-kognitiven Problemen andererseits ging. Von dieser Dichotomie waren auch die verschiedenen Erklärungsmodelle geleitet. Selbst heutzutage weisen die »störungsspezifischen Fragebogen« und »diagnostischen Checklisten« noch gewisse phänomenologische Überlappungen auf, die damit auf die Bedeutung transdiagnostischer psychopathologischer Merkmale hinweisen. Von daher ist es weiterhin geboten, den geschichtlichen Verlauf dieser Konzeptentwicklung zu verfolgen und aus diesen Erkenntnissen sowie aus der gegenwärtigen Forschung eine Abschätzung der Zukunftsperspektiven für die Einordnung der ADHS zu entwickeln.
Tab. 1.1: Zeitleiste der Konzeptentwicklung
Hinweise auf Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter, die der ADHS/HKS ähnlich sind, können bereits in frühen Beschreibungen von Hoffmann (1845), Maudsley (1867), Bourneville (1897), Clouston (1899) und Ireland (1877) sowie anderen Autoren aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden werden. Allerdings gibt es die ersten klaren fachlichen Beschreibungen der Störung erst bei Still und Tredgold um 1900. Beide Autoren präsentierten ihre Analyse der Verhaltensmerkmale bei einer relativ kleinen Stichprobe von Kindern, von denen einige in ihrem Verhaltensspektrum sehr den hyperaktiven Kindern unserer Zeit ähnelten. Still (1902) schrieb dieses Verhalten einem »Defekt moralischer Kontrolle« zu und glaubte, dieser sei biologisch begründet, d. h. angeboren oder auf irgendwelche prä- oder postnatal bedingten organischen Beeinträchtigungen zurückzuführen. Seine Vorstellungen hinsichtlich der Ursachen lassen sich am besten im Zusammenhang mit dem damals weit verbreiteten sozialen Darwinismus verstehen. Inhaltlich kommen diesen Vorstellungen am ehesten die aktuellen Konzepte von »heißer« bzw. »kalter« Aggression, manchmal gepaart mit mangelnder emotionaler/kognitiver Impulskontrolle nahe. Eine ähnliche Terminologie (»moralisches Irresein«) benutzte auch schon Emminghaus (1887) für Kinder, die eher Symptome einer Störung des Sozialverhaltens zeigten, wobei er Aggressivität und mangelnde Impulskontrolle in den Vordergrund stellte2 . Kinder mit einer Lern- bzw. Aufmerksamkeitsstörung wurden von ihm hingegen einer »cerebralen Neurasthenie« zugeordnet.
Die Theorie einer organischen Schädigung, welche in frühen Entwicklungsstadien eines Kindes eher leichtgradig und unbemerkt vorgekommen sein sollte, wurde von Tredgold (1908) und zu