1917 bis 1918 spielte ebenfalls eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Hyperaktivitätsstörung. Nach Ausbruch der Epidemie mussten sich die Kliniker mit einer Situation auseinandersetzen, dass ihnen in großer Zahl Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven Problemen vorgestellt wurden, die gleichzeitig die heute geltenden Kernmerkmale einer ADHS/HKS aufwiesen.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand also hinsichtlich der Ursache einer Hyperaktivitätsstörung die vorherrschende Meinung, dass diese mit einer Hirnschädigung verbunden sei, ohne dass man überzeugende Beweise für diese Annahme vorlegen konnte; entsprechend dominierten Bezeichnungen wie z. B. »organische Getriebenheit« oder »minimale Hirnschädigung«. In dieser Zeit fiel auch auf, dass die Verhaltensweisen hyperaktiver Kinder denen von Primaten ähnelten, die einer Frontalhirnläsion unterzogen worden waren und dadurch eine mangelnde Verhaltenssteuerung zeigten. Dieser Zusammenhang wurde von verschiedenen Untersuchern so verstanden, dass die hyperkinetische Störung möglicherweise auf einen Defekt von Frontalhirnstrukturen zurückzuführen sein könnte, obwohl bei den meisten betroffenen Kindern keine entsprechenden Läsionen festzustellen waren. Damit einher ging die Tatsache, dass 1937 Bradley erstmals Stimulanzien erfolgreich zur Behandlung hyperaktiver Kinder einsetzte und Panizzon 1954 Methylphenidat entwickelte, welches später das Standardmedikament zur Behandlung der ADHS/HKS wurde. Beide Entwicklungen konnten zumindest als indirekter Hinweis für das Vorliegen einer »subtilen hirnorganischen Störung« gelten (Weber 2001).
Gegen Ende der 1950er Jahre wurde das Konzept der Hirnschädigung als einzig wichtigem Faktor bei der Entwicklung einer hyperkinetischen Störung in Frage gestellt. Man ersetzte nunmehr den Begriff der »Minimalen Hirnschädigung« durch die Bezeichnung »Minimale Cerebrale Dysfunktion – MCD« bzw. »Minimal Brain Dysfunction – MBD« (MacKeith und Bax 1963; Clements 1966; Strauss und Kephart 1955), d. h. man setzte nicht mehr einen pathologischen neuroanatomischen Befund voraus, sondern hielt es auch für möglich, dass subtilere, grob anatomisch nicht erfassbare Auffälligkeiten des Gehirns bei der Pathophysiologie der hyperkinetischen Störung wesentlich sein könnten. Zu dieser Zeit wurde zudem eine Reihe anderer Hypothesen für die Erklärung der Ursachen der Hyperaktivitätsstörung entwickelt. Dabei kam es u. a. auch zu Überlegungen im Sinne einer psychoanalytisch begründeten Theorie, dass Erziehungsdefizite eine wesentliche Ursache für die Symptomatik sein könnten, ohne dass es dafür empirische Belege gab.
Das Konzept der »MCD« konnte sich aber auch nur bedingt durchsetzen, da die methodischen Zugänge zu dessen Prüfung noch nicht vorhanden waren. Von daher ist es verständlich, dass man sich mehr auf die Verhaltensbeobachtung verlegte und das »Syndrom des hyperaktiven Kindes« nur beschrieb, wofür Stella Chess (1960) eine der wichtigsten Protagonisten war. Die Konzeption von Chess unterschied sich von ihren Vorgängern dadurch, dass sie die symptomatische und psychosoziale Prognose hyperaktiver Kinder als eher günstig ansah, wobei sie annahm, dass die Auffälligkeiten bis zur Pubertät zurückgegangen sein sollten. So bestand Ende 1960 die vorherrschende Sichtweise darin, dass die hyperkinetische Störung zwar eine Hirndysfunktion reflektiere, sich aber in einer gewissen Variationsbreite von Symptomen zu erkennen gäbe, wobei die allgemeine motorische Unruhe das vorherrschende Merkmal sei.
Während der 1960er Jahre entwickelte sich die Betrachtungsweise der hyperkinetischen Störung in Europa bzw. Nordamerika in unterschiedliche Richtungen. Kliniker in Europa behielten eine engere Sichtweise der Störung aufrecht und sahen die Symptome als ein eher seltenes Syndrom mit exzessiver motorischer Aktivität an, das üblicherweise in Verbindung mit einigen indirekten Zeichen einer Hirnschädigung stehe. Andererseits wurde in Nordamerika die Hyperaktivitätsstörung als ein häufiges Phänomen angesehen, das in den meisten Fällen nicht notwendigerweise mit sichtbaren Zeichen einer Hirnschädigung einhergehe. Diese Unterschiede gingen schließlich auch in die diagnostischen Klassifikationssysteme ein (International Classification of Diseases (ICD) der World Health Organisation 1992 und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) der American Psychiatric Association 1980) und machen sich noch heute in niedrigeren Prävalenzraten für HKS gegenüber ADHS bemerkbar.
In den 1970er Jahren bewegte sich die wissenschaftliche Betrachtungsweise stärker von der motorischen Hyperaktivität weg und man begann, sich mehr und mehr mit den Aufmerksamkeitsaspekten der Störung zu befassen, wobei vor allem klinische Psychologen wie z. B. Virginia Douglas (1972) federführend waren. Verschiedene Autoren zeigten, dass hyperaktive Kinder große Schwierigkeiten hatten, bei jeweils gestellten Aufgaben die Daueraufmerksamkeit aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig entwickelte sich eine Anschauung, dass hyperkinetisches Verhalten in erster Linie auf belastende Umgebungsfaktoren zurückzuführen sei. Diese Betrachtung traf mit einer gesellschaftlichen Bewegung zu einem gesünderen Lebensstil und einer gewissen Unzufriedenheit mit einer vermeintlich ausgeprägten Neigung zur Medikation bei Schulkindern zusammen.
Ferner wurde eine Bewegung aktiv, welche die Hyperaktivitätsstörung vornehmlich auf allergische Reaktionen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten, insbesondere aber auf Nahrungszusatzstoffe zurückführen wollte (z. B. Feingold 1975). Schließlich wurden auch der allgemeine technische Fortschritt und andere kulturelle Einflüsse als ursächliche Faktoren verantwortlich gemacht. Parallel vollzog sich eine wissenschaftliche Entwicklung, welche in zunehmendem Umfang die Hyperaktivitätsstörung mittels psychophysiologischer Methoden untersuchte, um den pathologischen hirnfunktionellen Hintergrund besser zu verstehen. In dieser Zeit wurde also erneut deutlich, dass die Hyperaktivitätsstörung mit ihrer engen Verbindung zu auffälligem Sozialverhalten und Schulleistungsproblemen im Blickpunkt verschiedener Sichtweisen sowie gesellschaftlicher Bereiche steht und mehr Sachkenntnis für ein vertieftes Verständnis hilfreich ist.
Seit den 1970er Jahren schalteten sich mehr und mehr europäische und insbesondere auch deutsche Forscher in die wissenschaftlichen Themen zu ADHS ein, wie summarisch in Tabelle 1.2 dargestellt ist.
Tab. 1.2: Neuere Entwicklung der Beschäftigung mit ADHS im deutschsprachigen Raum
In den 1980er Jahren nahm die Forschungsaktivität im Feld mit der Entwicklung von Forschungskriterien und standardisierten Abklärungsprozeduren deutlich zu. Auch im Bereich der Behandlung konnten Fortschritte mit Methoden erzielt werden, die an der kognitiv-verhaltensorientierten Therapie (Freibergs und Douglas 1969; Gittelman 1981) orientiert waren. Zunehmend wurde die Hyperaktivitätsstörung als eine Auffälligkeit gewertet, die eine starke erbliche Komponente aufweist, von chronischem Verlauf ist und eine deutliche psychosoziale Beeinträchtigung vor allem hinsichtlich der schulischen und sozialen Entwicklung bedeutet. Damit bedurfte die Behandlung nicht nur der Medikamente, sondern einer integralen, multimodalen Vorgehensweise mit sich gegenseitig ergänzenden Fähigkeiten von verschiedenen Fachleuten.
Im Verlauf der 1990er Jahre wurde die Ausrichtung der Forschung auf die allgemeine motorische Unruhe und die Aufmerksamkeitsprobleme derart intensiv, dass mehr Forschungsliteratur als zu jeder anderen kinderpsychiatrischen Störung entstand. Dabei war die Variationsbreite und Intensität der Forschung beträchtlich, wobei sie tiefer in die Genetik und neurobiologischen Grundlagen der Hyperaktivitätsstörung eindrang (Rothenberger 1990). Zugleich nahm die Zahl an Untersuchungen zu, welche die Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener Behandlungsmethoden vor allem in der Psychopharmakotherapie überprüften sowie die mit ADHS/HKS assoziierten psychiatrischen Störungen (z. B. Tic, Zwang, Autismus) in den Blick nahmen.
In dieser Zeit entstanden auch die ersten Leitlinien zu HKS bzw. ADHS (z. B. European Society for Child and Adolescent Psychiatry; Taylor et al. 1998, Update 2004; American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, Practice Parameters 1997). Die Entwicklung von Leitlinien war als ein wichtiger Versuch zu verstehen, um die Vorgehensweisen in der Praxis mit der Forschungslage abzugleichen, zu standardisieren und im Sinne des Qualitätsmanagements weiter zu entwickeln. Diese Leitlinien betonen die Bedeutung der individualisierten, multimodalen, multidisziplinären Abklärung und Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörungen durch versierte klinische Praktiker. Dabei wurde auch immer deutlicher, dass diese Störung sich nicht bei allen Kindern »auswächst«, sondern bei einem