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      Um 10 Uhr, in einer Ecke des Schulhofs, wurde Frieder umringt und musste spielen. Es kamen auch größere Schüler von anderen Klassen herbei und die wollten nicht nur hören, die wollten es auch probieren. Die Harmonika ging von Hand zu Hand. Sie zogen daran mit Unverstand, einer riss sie dem andern mit Gewalt weg und der sie nun hatte, der sagte: »Sie geht ja gar nicht, ich glaube, sie ist zerplatzt.« Da bekam sie Frieder zurück und als er sie ansah, wurde er blass und als er sie zog, gab sie keinen einzigen Ton mehr. Da wurden sie alle still und sahen betroffen auf den kleinen Musikanten.

      »Wer hat's getan?« hieß es nun. Die Frage ging von einem zum andern und wurde zum Streit, aber Frieder kümmerte sich nicht darum, er verwandte keinen Blick von seiner Harmonika, er strich mit der Hand über sie, er drückte sie zärtlich an sich, er probierte noch einmal einen Zug, aber er wusste es ja schon vorher, dass ihre Stimme erloschen war und nimmer zum Leben zu erwecken.

      Nach der Schule lief er all seinen Kameraden, die ihn teilnehmend oder neugierig umgaben, davon, er mochte nichts hören und nichts sehen von ihnen. Er trug seine Harmonika im Arm, lief durch die lange Frühlingsstraße nach Hause, rief die Mutter und drückte sich bitterlich weinend an sie mit dem lauten Ausruf: »Sie ist tot!«

      Eine ganze Woche schlich Frieder ruhelos im Hause umher wie ein Heimatloser. Immer fehlte ihm etwas, oft sah er auf seine leeren Hände, bewegte sie wie zum Ziehen der Harmonika und ließ sie dann ganz enttäuscht sinken. Das bitterste an seinem Schmerz war aber die Reue. Er selbst hatte ja seine Freundin den bösen Buben ausgeliefert. Hätte er sie in der Stille für sich behalten und nicht mit ihr Ruhm ernten wollen, so wäre sie noch lange am Leben geblieben. Dagegen half kein Trost, nicht einmal die Vermutung der Geschwister, dass er vielleicht eine neue Harmonika zu Weihnachten bekommen würde.

      Aber etwas anderes half ganz unvermutet.

      Es war wieder Sonntag, der zweite Advent, und wieder standen die Kinder beisammen, noch immer ratlos wegen eines Weihnachtsgeschenks für die Eltern. Diesmal lief aber Frieder nicht weg, wie er vor acht Tagen getan hatte, er konnte ja kein Adventslied mehr üben, so zog ihn nichts ab. Er hatte still zugehört, wie allerlei Vorschläge gemacht und wieder verworfen wurden, nun mischte er sich auch ein: »Unten,« sagte er, »auf den Balken, da kann man sich alles ausdenken, aber da oben nicht.«

      »So geh du hinunter und denke dir etwas für mich aus,« sagte eines der Geschwister. »Für mich auch!« »Und für mich,« hieß es nun von allen Seiten. Er war gleich bereit dazu. Die Schwestern gaben ihm ihren großen Schal mit hinunter. Er ging auf das Plätzchen, das er so gern mit seiner Harmonika aufgesucht hatte. Es war kalt heute und er wickelte sich ganz in das große Tuch, saß da allein, war vollständig erfüllt von seiner Aufgabe, zweifelte auch gar nicht daran, dass er sie lösen würde. Auf der Harmonika war ihm hier unten auch alles gelungen, was er versucht hatte. Der kleine Kopf war fest an der Arbeit.

      Als Frieder wieder heraufkam, sammelten sich begierig alle Geschwister um ihn, und er, der in ihrem Rat noch nie das große Wort geführt hatte, streckte nun seine kleine Hand aus und sagte so bestimmt, wie wenn da nun gar kein Zweifel mehr sein könnte: »Du, Karl, musst ein Gedicht erdichten und du, Wilhelm, auf einen so großen Bogen Papier schöne Sachen abzeichnen und Otto muss so laut, wie es der Rudolf Meier beim Maifest getan hat, vom Bismarck deklamieren und Marianne soll das schönste Lied vom Liederbuch zweistimmig vorsingen. Aber wir zwei können nichts,« sagte er, indem er sich an Elschen wandte, »darum müssen wir solche Sachen sammeln zum Feuer machen, wie es manchmal Walburg sagt, Nussschalen und Fadenrollen, Zwetschgensteine und alte Zündhölzer, einen rechten Sack voll.«

      Jedes der Kinder dachte nach über den Befehl, den es erhalten hatte, und fand ihn ausführbar. »Ich weiß, was ich zeichne!« rief Wilhelm, »dich zeichne ich ab, Frieder, wie du mit deiner Harmonika immer da gestanden bist.«

      »Und ich mache ein Gedicht über unsern Krieg in Afrika, wenn der Morenga darin vorkommt, dann gefällt es dem Vater.« Sie waren alle vergnügt. »Frieder,« sagte Karl, »es tut mir ja leid für dich, dass du deine Harmonika nimmer hast, aber mir bist du lieber ohne sie.« Die andern stimmten ein und Frieder machte nimmer das trostlose Gesicht, das man die ganze Woche an ihm gesehen hatte, zum ersten Mal fühlte er sich glücklich auch ohne Harmonika.

      Zwischen den Adventssonntagen lag ernste Lernzeit, denn da galt es, viele Probearbeiten anzufertigen, von denen das Weihnachtszeugnis abhing. Die Fest- und Ferienzeit wollte verdient sein.

      Unter den jungen Pfäfflingen war Otto der beste Schüler, und er galt viel in seiner Klasse. Nun saß hinter ihm ein gewisser Rudolf Meier, der machte sich sehr an Otto heran, obwohl dieser ihn nicht eben lieb hatte. Er war der Sohn von dem Besitzer des vornehmen Zentralhotels und machte sich als solcher gern ein wenig wichtig. Alle Kameraden mussten es erfahren, wenn hohe Persönlichkeiten im Hotel abgestiegen waren, und wenn gar Fürstlichkeiten erwartet wurden, fühlte er sich so stolz, dass sich's die andern zur Ehre rechnen mussten, wenn er sich an solchen Tagen von ihnen die Aufgaben machen ließ. Er war älter und größer als alle andern, weil er schon zweimal eine Klasse repetiert hatte; dessen schämte er sich aber keineswegs, sondern sagte gelegentlich von oben herab: »In solch einem Welthotel müsse selbstverständlich die gewöhnliche Schularbeit manchmal hinter wichtigerem zurückstehen.«

      Dieser Rudolf Meier hatte seine guten Gründe, warum er heute ein ganzes Stück Weges mit Otto ging, obwohl das Zentralhotel der Frühlingsstraße entgegengesetzt lag.

      Sie sahen gar nicht wie Schulkameraden aus, diese beiden. Otto in kurzem, schlichtem, etwas ausgewaschenem Schulbubenanzug, Rudolf Meier ein feines junges Herrchen, mit tadellos gestärkten Manschetten und Kragen nach neuester Fasson. Und doch wandte sich nun der um einen Kopf Größere bittend zu dem Kleinen und sagte: »Ich bin etwas in Verlegenheit, Pfäffling, wegen der griechischen Arbeit, die wir morgen abliefern sollen. Es ist gegenwärtig keine Möglichkeit bei uns, all dies Zeug zu machen, ich habe wahrhaftig wichtigeres zu tun. Würdest du mir nicht heute nachmittag dein Heft mitbringen, dass ich einige Stellen vergleichen könnte?« »Von mir aus,« sagte Otto, »nur wenn du mir wieder einen Klex hineinmachst, wie schon einmal, dann sei so gut und setze deine Unterschrift unter den Klex.«

      Rudolf Meier wollte auch die Mathematikaufgabe ein wenig vergleichen. »Was tust du eigentlich den ganzen Tag, wenn du gar nichts arbeitest?« sagte Otto ärgerlich, »mir ist's einerlei, wenn du auch alles abschreibst, aber ich kann dich gar nicht begreifen, dass du das magst.«

      »Weil du nicht weißt, wie es bei uns zugeht, Pfäffling, anders als bei euch und das kannst du mir glauben, ich habe oft mehr zu leisten als ihr. Da ist zum Beispiel vorige Woche eine russische Familie angekommen, Familie ersten Rangs, offenbar steinreiche Leute, gehören zur feinsten Aristokratie. Haben fünf Zimmer im ersten Stock vorn heraus gemietet. Sie beabsichtigen offenbar lange zu bleiben, sieben riesige Koffer. Werden wohl die Revolution fürchten, haben ihr Geld glücklich noch aus Russland herausgebracht und warten nun in Deutschland ab, wie sich die Dinge in Russland gestalten. Gegen solche Gäste ist man artig, das begreifst du. Da sagt nun gestern die Dame zu meinem Vater, sie möchte ihren beiden Söhnen Unterricht geben lassen von einem Professor, welchen er wohl empfehlen könnte? Mein Vater verspricht ihr sofort Auskunft, kommt natürlich an mich. Ich sitze an meiner Arbeit. Nun heißt es: ›Rudolf, mach deine Aufwartung droben. Besprich die Unterrichtsfächer, gib guten Rat, nenne feine Professoren mit liebenswürdigen Umgangsformen. Erbiete dich, die Herrn Professoren aufzufordern und den Unterricht in Gang zu bringen.‹

      »Ich mache feinste Toilette, mache meine Aufwartung. So etwas ist keine Kleinigkeit, besonders bei solchen Leuten. Du spürst gleich, dass du mit wirklich Adeligen zu tun hast, und der große Herr mit seiner militärischen Haltung und strengem Blick, die Dame in kostbarem Seidenkostüm imponieren dir, du musst dich schon zusammennehmen. Die zwei jungen Herrn sehen dich auch so an, als wollten sie sagen: Ist das ein Mensch, mit dem man sich herablassen kann zu reden oder nicht?

      »Nun, ich kenne ja das von Kind auf und lasse mich nicht verblüffen. Es hat ihnen denn doch imponiert, wie ich von meinem Gymnasium und meinen Professoren gesprochen habe. Aber du kannst dir denken, dass ich genug zu laufen hatte, bis ich die Sache in Gang brachte, und nun bin ich wohl noch nicht fertig, denn sie haben gestern ein Pianino gekauft, eine Violine haben