Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adelbert von Chamisso: Reclam Lektüreschlüssel XL
Auch Schlemihl arbeitet nach dem Verzicht auf einen Bund mit dem Teufel an der systematischen und methodischen Erfassung insbesondere der Pflanzenwelt, weil er in der botanischen Forschung eine für ihn persönlich und für die Gesellschaft sinnstiftende Tätigkeit sieht. Eigentlich jedoch ist er, wie Thomas Mann im Jahre 1911 schreibt, »ein ›nur seinem Ich-FixierungSelbst lebender‹ Naturforscher«, der »grotesk und stolz über Berg und Tal« schreitet, ohne noch weiter mit anderen Menschen in Verbindung zu treten.4 Er Selbstisolierungschließt sich vielmehr hermetisch von der Gesellschaft ab, in der trügerischen Überzeugung, dass er den Makel seiner Schattenlosigkeit durch Verzicht auf zwischenmenschliche Beziehungen und durch seine Beschränkung auf eine abstrakte Lebensleistung kompensieren kann.
2. Inhaltsangabe
Kapitel I. Die Eröffnungsszene (Exposition)
Peter Schlemihls wundersame Geschichte erzählt, wie es bereits der Titel ausdrücklich ankündigt, im RetrospektiveRückblick auf ein individuelles Leben von außergewöhnlichen und unwirklichen Begebenheiten, in deren Mittelpunkt ein namentlich bezeichneter Mann steht. Ganz unvermittelt erscheint dieser Peter Schlemihl als Ich-ErzählsituationIch-Erzähler auf der Bühne des Geschehens, nachdem er am Ende einer »sehr beschwerlichen Seefahrt […] endlich den Hafen« (S. 9) einer deutschen Stadt erreicht hat. Während Ort und Zeit der Handlung weitgehend unbestimmt bleiben, erhält der Leser allerdings genauere Informationen über die besonderen Handlungsmotive des Helden. Dieser ist nämlich im Besitz eines Empfehlungsschreibens, mit dem er sich auf den Schlemihl sucht eine Anstellunghoffnungsvollen Weg zu Thomas John macht, dem Eigentümer eines herrschaftlichen und luxuriösen Landsitzes.
Der Arbeitsuchende, der selbst nur mit einer »kleinen Habseligkeit« (S. 9) ausgestattet ist und sich lediglich eine Ein Nobody in der High Societybillige Unterkunft in einem schäbigen Hotel leisten kann, wird bei seiner Ankunft auf dem prächtigen Anwesen von den dort anwesenden Personen mit großer Erniedrigung des HabenichtsHerablassung behandelt. Während die Gespräche der Reichen und Schönen vor allem um Geld und Besitz kreisen, leidet der Ich-Erzähler unter der damit verbundenen Nichtbeachtung seiner eigenen Person. Im Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit und Nichtigkeit begleitet er die anwesende Gesellschaft bis zu einem »rosenumblühten Hügel« (S. 10), wo er Zeuge wird, wie die geringfügige Schnittverletzung an der Hand einer Dame sämtliche Menschen in deren unmittelbarer Umgebung dazu bringt, sich mit diesem banalen Ereignis übermäßig intensiv zu beschäftigen.
Inmitten der hektischen Aktivitäten zur Versorgung der kleinen Wunde steht auf einmal ein »stiller, dünner, hagrer, länglichter, ältlicher Mann« im Zentrum der Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers. Er beobachtet, wie der Begegnung mit dem BösenUnbekannte aus der »Schoßtasche seines altfränkischen, grautaffentnen Rockes« unversehens »eine kleine Brieftasche« (S. 10 f.) herauszieht, aus welcher er wiederum ein Wundpflaster hervorholt, mit dem die verletzte Dame ohne weitere zeitliche Verzögerung versorgt werden kann.
Die Unscheinbarkeit des hässlichen und überdies altmodisch gekleideten Fremden steht in einem unerklärlichen Widerspruch zu dessen fantastischer Übernatürliche FähigkeitenFähigkeit, wie aus einem Füllhorn beliebige Gegenstände hervorzuzaubern, an denen gerade Bedarf besteht. Kaum hat er das kleine Pflaster für die vornehme Frau beschafft, so versorgt er gleich darauf den Herrn des Hauses, Thomas John, mit einem großen Fernrohr, als dieser danach verlangt. Trotz seiner magischen Kräfte wird der »graue[] Mann« (S. 11) auch bei seinem nächsten Zauberakt von den Menschen ignoriert, die »ohne Umstände« auf einem »reichen, golddurchwirkten türkischen Teppich« Platz nehmen, den der »Mann im grauen Rock« (S. 12) auf den allgemeinen Wunsch nach einer bequemen Sitzgelegenheit hin aus seiner Tasche gezogen hat. Und obwohl die Erfüllung weiterer materieller Wünsche jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt, bleibt auch die unmittelbare Beschaffung eines großen Zeltes und »drei[er] Reitpferde« (S. 13) vollkommen unbeachtet, denn niemand findet »etwas Außerordentliches darin« (S. 12).
Unter dem Eindruck des paradoxen Gegensatzes zwischen der »blasse[n] Erscheinung« des »seltsamen grauen Mann[es]« (S. 13) und seinem übermenschlichen Quell materiellen GlücksVermögen, jedem Wunsch nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung sofort entsprechen zu können, empfindet der Erzähler einerseits ein übermächtiges und schauerliches Gefühl der Faszination und andererseits den Wunsch, sich dem ihn überwältigenden Einfluss des Ungeheuren durch räumliche Entfernung zu entziehen.
Der Fluchtreflex bleibt vergeblich, denn die Übermacht des Bösenübernatürliche Allgegenwart des fremden Mannes zwingt den Erzähler unausweichlich zu einer direkten Begegnung und Auseinandersetzung mit der »schauerlich[en]« (S. 13) Figur, obwohl ihm deren Anblick zuwider ist.
Der Fremde wirkt zwar äußerst unterwürfig, doch gelingt es ihm, mit den ausgewählten Worten einer auf die Spitze getriebenen Höflichkeit und zugleich »im Tone eines Bettelnden« (S. 14), seinen bizarren Wunsch erfüllt zu bekommen: Er trägt sein Verlangen nach dem Schatten des Ich-Erzählers so überzeugend vor, dass dieser schließlich trotz seiner Angst in den Tauschhandel Verführung und Sündenfalleinwilligt. Indem er dem Anderen den eigenen Schatten überlässt, erhält er als Fortunati GlückssäckelGegenleistung »einen mäßig großen, festgenähten Beutel, von starkem Korduanleder« (S. 15), dem er nach Belieben eine endlose Zahl von Goldstücken entnehmen kann.
Kapitel II
Ungeachtet seines neuen Reichtums erfährt der Ich-Erzähler seinen riesigen finanziellen Gewinn als Verlust sozialen Ansehenskatastrophalen Verlust seines sozialen Ansehens. Nachdem er aus einem wehrlosen Zustand besinnungslosen Begehrens nach unerschöpflichem Geldbesitz erwacht ist, ernüchtern ihn sehr rasch die unmittelbaren Hinweise auf das, was ihm fehlt: Indem zuerst »ein altes Weib«, dann die »Schildwacht« am Stadttor und bald darauf »ein paar Frauen« seine Schattenlosigkeit mit wachsendem Entsetzen zur Kenntnis genommen haben (»Jesus, Maria! Der arme Mensch hat keinen Schatten!« [S. 16]), wird der zunehmend verunsicherte und schließlich fassungslose Held am Ende von »Knaben aus der Schule« Öffentliche Bloßstellungöffentlich bloßgestellt und von der »Straßenjugend der Vorstadt […] mit Kot« (S. 16) beworfen.
Auf die unerwartete Denunziation seines elementaren Mangels hin versucht der »verstört[e]« (S. 17) Erzähler, gegen den Spott und Hohn seiner feindlichen Umwelt anzugehen, indem er »Gold zu vollen Händen« (S. 16 f.) unter die Menschen wirft und sich im »vornehmste[n] Hotel« (S. 17) dauerhaft einquartiert. In dem einsamen Bedürfnis nach Selbstvergewisserung im ÜberflussSelbstvergewisserung berauscht er sich dort an den vielen Goldstücken, die er in den Räumen seiner neuen Unterkunft über den Estrich verteilt hat. Als er aber am anderen Morgen aus einem Alptraum erwacht, gelingt es ihm nur mühsam und mit größtem körperlichen Einsatz, die gewaltige VerstecksucheGoldmenge in »einem großen Schrank« (S. 18) zu deponieren. Eine weitere Reaktion auf die persönliche Notsituation besteht darin, dass er von nun an das Sonnenlicht meidet, um sich nicht bloßzustellen. Seine Furcht vor einer erneuten öffentlichen Demütigung zwingt ihn dazu, das eigene Handeln und Verhalten stets im Hinblick darauf zu prüfen, ob und wie er seine Schattenlosigkeit verheimlichen kann.
Während Maßnahmen zum Selbstschutz für den Ich-Erzähler zur quälenden Notwendigkeit werden, unternimmt er erste Versuche, mit dem verschwundenen Unbekannten erneut Kontakt aufzunehmen. Nachdem er zunächst selbst erfolglos nach diesem gesucht hat, beauftragt er schließlich seinen neuen Der Diener BendelDiener Bendel mit Nachforschungen nach dem Verbleib des »Mann[es] im grauen Rocke« (S. 20). Obwohl ihm dessen Aussehen genau beschrieben worden ist, verkennt Bendel die Übereinstimmung dieser Beschreibung mit einem Mann, der ihm, als Bendel ihm während seiner detektivischen Suche begegnet, für Schlemihl folgende Mitteilung mit auf den Weg gibt: Fatale Botschaft»Sagen Sie dem Herrn Peter Schlemihl, er würde mich hier nicht mehr sehen, da ich übers Meer gehe, und ein günstiger Wind mich soeben nach dem Hafen ruft. Aber über Jahr und Tag werde ich die Ehre haben, ihn selber aufzusuchen und ein anderes, ihm dann vielleicht annehmliches Geschäft vorzuschlagen.« (S. 21)
Nachdem der Ich-Erzähler dem bestürzten und verzweifelten Diener Vorwürfe wegen dessen Blindheit gemacht hat, schickt er ihn – doch auch diesmal umsonst – zum Hafen, um den Auftraggeber der Botschaft gleichwohl noch ausfindig