Patricia Vandenberg

Sophienlust Box 16 – Familienroman


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weil er das Gefühl hatte, er müsse seiner Tochter die Wahrheit sagen, ob sie sie nun verstehen könne oder nicht.

      Lexi ließ sich von Josefa das feuchte blonde Haar kämmen und schlug die Augen zu ihrem Vater auf. »Na ja, ich hab’s auch nicht gewusst«, meinte sie gönnerhaft. »Bloß gut, dass meine Mutti es uns noch gesagt hat.«

      Er legte die Hand auf die schmale Kinderschulter. »Ja, Alexa, darüber bin ich auch froh.«

      *

      Den folgenden Tag verbrachte Alexander Rethy auf Sophienlust. Er lernte auf diese Weise das Leben kennen, das seine Tochter dort führte. Alexa führte ihre beachtlich fortgeschrittenen Reitkünste vor und brachte es sogar fertig, das Pony nach getaner Arbeit selbst abzureiben und abzusatteln. Nur den Riegel der Box durfte Justus, der wohlwollend zugeschaut hatte, am Ende zuschieben, weil er für Lexi zu schwer war.

      Auch eine Fahrt nach Bachenau stand auf dem Programm, wo Andrea von Lehn, Nicks verheiratete Schwester, die Gäste mit Pflaumenkuchen bewirtete und anschließend das berühmte Tierheim Waldi & Co. besichtigt wurde.

      »Wie jung Frau von Schoeneckers Tochter aussieht. Man könnte sie für ein Schulmädchen halten«, raunte Alexander Rethy Josefa ins Ohr.

      »Sie ist ja auch erst knapp neunzehn, denn sie hat von der Schulbank weg geheiratet«, erwiderte die Ärztin ebenso leise. »Aber sie ist sehr glücklich in ihrer Ehe geworden. Ihr Mann, Dr. Hans-Joachim von Lehn, ist Tierarzt, und sie selbst liebt Tiere über alles. So haben die beiden in jeder Hinsicht die gleichen Interessen. Ich kenne die Geschichte dieser Ehe durch meine Freundin Carola Rennert. Da Andreas Schwiegervater den Wunsch hatte, sich zur Ruhe zu setzen, konnte sein Sohn das Haus, das große Grundstück und die ausgedehnte Praxis bereits in sehr jungen Jahren übernehmen.«

      Waldi, der Namenspatron des Tierheims, stolzierte die ganze Zeit hinter der kleinen Gesellschaft her, während die große schwarze Dogge Severin nicht von Andreas Seite wich und die Fremden die ganze Zeit aufmerksam musterte.

      »Da haben Sie einen getreuen Beschützer, Frau von Lehn«, meinte Alexander Rethy, als der Rundgang beendet war und er auch Helmut Koster, den Tierpfleger, der zugleich den großen Garten in Ordnung hielt und sich um die Wagen der von Lehns kümmerte, begrüßt hatte.

      »Mein Mann hat mir Severin geschenkt. Das arme Tier war damals völlig verwahrlost und gehörte Fabian Schöller, der durch die Dogge in Sophienlust eine neue Heimat gefunden hat. Severin ist tatsächlich mein ständiger Beschützer und Begleiter geworden, obwohl man einen Schutz hier in Bachenau kaum nötig hat. Unsere Welt ist friedvoll und klein, Herr Rethy. Sie leben zwischen den Kontinenten und kommen täglich mit Gefahren und aufregenden Ereignissen in Berührung, doch bei uns gibt es nur die Tiere und die Kinder in Sophienlust. Aber ganz ohne Aufregung geht es erstaunlicherweise auch in unserem kleinen Bereich nicht ab.«

      »Das kann ich mir vorstellen. Das Leben ist immer dramatisch, und meist da, wo man es am wenigsten erwartet«, antwortete der Flugkapitän höflich. Andrea gefiel ihm, so wie ihm alle Leute gefielen, die zu Sophienlust gehörten. Das Ehepaar von Schoenecker schien den Menschen seiner Umgebung und insbesondere der eigenen Familie einen besonderen Stempel aufzuprägen. Alexander Rethy freute sich immer mehr darüber, dass seine kleine Tochter in dieser Atmosphäre von Humanität und echter Freundlichkeit aufwachsen sollte.

      Am Abend saßen Alexander Rethy und Josefa Klinger am Kamin von Schoeneich, wo ein paar Buchenscheite knisterten – nicht unbedingt der Kälte wegen, sondern weil es dadurch gemütlich war. Alexander von Schoenecker bewirtete die Gäste mit seinem besten Rotwein, und die Stimmung war gelöst und heiter.

      »Nehmen Sie sich für die Angehörigen Ihrer Kinder immer so viel Zeit, und sind Sie immer so gastlich?«, erkundigte sich der Flugkapitän, der sich nicht erinnern konnte, jemals einen Abend in einem so harmonischen Kreis verbracht zu haben.

      »Wir sind alle eine große Familie«, antwortete der Hausherr lächelnd. »Wenn ich nicht an dem Anteil nähme, was für meine Frau zum schönsten Lebensinhalt geworden ist, wäre unsere Ehe recht traurig. Denn meine Frau ist fast täglich drüben in Sophienlust, und unser Sohn Nick verbringt sogar gelegentlich die Nächte dort in seinem Zimmer.«

      Nick, der schon gelegentlich mit bei den Erwachsenen sitzen durfte, hob den Kopf. »Wenn ich nicht ab und zu dort bliebe, gehöre ich nicht richtig dazu, Vati. Sophienlust ist doch mein späterer Beruf.«

      »Ja, mein Junge, so ist es.« Denise von Schoenecker nickte dem bildhübschen Fünfzehnjährigen mit dem lockigen dunklen Haar zu. »Eines Tages werde ich diese Aufgabe in deine Hände legen.«

      »Das hat noch viel Zeit, Mutti«, meinte Nick. »Erst einmal kommt mein Abitur, und dann muss ich studieren, genau wie Sascha. Du bist ja noch jung, Mutti. Gott sei Dank!«

      In der Tat wirkte die schöne Denise erstaunlich jugendlich. Man traute ihr den großen Sohn kaum zu.

      »Zu alt komme ich mir auch nicht vor, Nick. Aber ich möchte manchmal mehr Zeit für Vati haben. Auch für ihn wird es leichter werden, wenn er nicht mehr beide Güter allein verwalten muss. In ein paar Jahren wird Sascha ihn unterstützen.«

      »Ohne dich ist Sophienlust nicht mehr Sophienlust, Mutti. Du darfst das nicht aufgeben, nie«, erklärte Nick leidenschaftlich. »Es war zwar der Gedanke meiner Urgroßmutter, aber du hast dem Heim seinen besonderen Charakter gegeben. Ich mag gar nicht daran denken, dass du dich irgendwann einmal aus dieser Aufgabe zurückziehen wirst.«

      »Es hat noch Zeit, mein guter Junge«, meinte Alexander von Schoenecker lächelnd. »Leben wir in der Gegenwart und genießen wir diesen guten Tropfen. Trinken wir auf Muttis Wohl!«

      Sie hoben die Gläser. Auch Henrik hielt mit, wenn sich auch in seinem Glas nur roter Fruchtsaft befand. Dann wurde es für den Jüngsten Schlafenszeit. Er schmollte ein wenig, denn er war sich im Kreise der Großen schon beinahe erwachsen vorgekommen. Doch seine gute Erziehung siegte. Er verabschiedete sich von den Gästen und seinen Eltern, nicht ohne von Denise das Versprechen zu erschmeicheln, dass sie in zwanzig Minuten noch einmal zu ihm hinaufkommen werde.

      »Er ist ein besonders netter Bursche«, sagte Alexander Rethy, nachdem Henrik verschwunden war. »Ich erinnere mich noch genau, wie freundlich er sich gleich am ersten Tag Alexas angenommen hat. Da wusste ich allerdings noch nicht, dass er Ihr Sohn ist, gnädige Frau.«

      »Alle Kinder in Sophienlust sind nett zu neuen Heimbewohnern«, warf Nick ein. »Ich glaube, es ist wichtig, wie man aufgenommen wird in einem Heim. Ich bin selbst als kleiner Junge in einem Kinderheim gewesen und habe oft unter schrecklicher Sehnsucht nach meiner Mutter gelitten.«

      Unwillkürlich griff Denise nach Dominiks kräftiger Jungenhand. Ja, das waren schwere Zeiten gewesen damals, nach dem Tod ihres ersten Mannes. Erst das Testament der Sophie von Wellentin, das Nick mit einem Schlage zu einem reichen Jungen gemacht und ihr die Aufgabe gestellt hatte, Sophienlust in eine Heimstatt für in Not geratene Kinder zu verwandeln, hatte ihrem Leben die entscheidende, glückliche Wende gegeben.

      Josefa Klinger saß still neben dem Feuer und lauschte den Worten der anderen. Sie fühlte sich geborgen und glücklich. Insgeheim freute sie sich auf die Rückfahrt nach Sophienlust, denn Alexander Rethy hatte versprochen, sie dort abzusetzen, wenn er in die Kreisstadt zurückfahre. Er selbst hatte ja im ›Bären‹ ein Zimmer, das er noch zwei Tage bewohnen würde.

      Zwei Tage, überlegte die Ärztin. Dann fährt er weg und wird wieder nicht schreiben. Doch dann dachte sie an die soeben ausgesprochene Mahnung des Gastgebers, nicht an die Zukunft zu denken, sondern dem frohen Augenblick zu leben, und genoss die Harmonie des Abends sowie die Anwesenheit Alexander Rethys.

      *

      Am letzten Tag des Aufenthaltes des Flugkapitäns in Sophienlust kam überraschender Besuch für Josefa Klinger. Es war Dr. Fred Wellner, der Oberarzt der Klinik, der drei Tage Urlaub nutzen wollte, um die Kollegin an ihrem Ferienort aufzusuchen.

      Der Zufall fügte es, dass Dr. Wellner genau das Zimmer im Gasthof ›Zum Bären‹ mietete, in dem eben noch der Koffer von Alexander Rethy gestanden hatte. Die Herren begegneten einander im Flur und grüßten beide höflich.