Wiesengrund. Unheimlich war die Stille. Kein Schuss fiel. Wo, zum Teufel, steckte die Rote Armee?
Die Batterie Kern befand sich auf dem Marsch. Rätselhaft war das alles. Zwar waren vor Kurzem, als die Zugmaschinen aus der Protzenstellung kamen, Stuka in großer Höhe nach Südosten geflogen, und irgendwo in der Ferne rumpelte es drohend, aber im eigenen Vorgelände war kein Gefechtslärm zu vernehmen.
Nach kurzer Fahrt durch eine Kiefernschonung kam ein staubbedeckter Kradmelder auf seinem Motorrad von vorn. Leutnant Hohberg nahm die Meldung vom Batteriechef entgegen.
Das Dorf, bei dem die Geschütze erneut in Stellung gehen sollten, lag schon sieben Kilometer tief in Feindesland. Wie rasch hatte man sich umgestellt! Das Gebiet, das Stalin im Herbst 1939 auf Grund des deutsch-sowjetischen Freundschaftspaktes besetzt hatte, war jetzt Feindesland!
»Was wird hier eigentlich geboten?«, fragte Hohberg den Kradmelder. »Kein Widerstand bei den Russen, wie?«
Der Mann nahm die Brille ab und wischte sich den Staub vom Gesicht.
»Wird ganz bestimmt noch kommen, Herr Leutnant«, meinte er.
Er behielt recht. Am Nachmittag, als die Infanteriespitze sich einer Linie gut getarnter Bunker näherte, trat die feindliche Artillerie in Aktion.
Die Batterie Kern und eine benachbarte bespannte Batterie leichter Feldhaubitzen erwiderten das Feuer. Bald meldete die B-Stelle die Vernichtung von zwei feindlichen Geschützen. Die Kanoniere quittierten den Erfolg mit Freudengebrüll, als wäre der Krieg in Russland nun schon gewonnen. Zuinnerst jedoch wusste jeder, dass er jetzt erst begann.
Das nächste Feuerkommando, das von vorn, von der B-Stelle, kam, galt der Bekämpfung der feindlichen Bunker. Nach mehreren, genau im Ziel liegenden Salven verstummten die Geschütze.
Sturmpioniere und Infanterie traten zum Angriff an. Plötzlich aufkommender Wind vertrieb die Schwaden der Nebelgranaten. MG- und Gewehrfeuer schlug den Angreifern aus den Bunkern entgegen, die auf und an einen nach Norden abfallenden Hang gebaut waren. Sie hatten Stirnwände aus Beton, in die Schießscharten eingelassen waren. Einige der Bunker waren noch nicht ganz fertiggestellt, doch aus allen ratterte und peitschte wildes Abwehrfeuer, der erste ernsthafte Widerstand seit dem Überschreiten der Grenze.
Unter den Angreifern, die ohne Deckung den Hang hinaufstürmten, wurden Rufe nach den Sanitätern laut. Aber einzelne Trupps der Pioniere waren im toten Winkel der Bunker angelangt, in dem ihnen das Feuer aus den Schießscharten nichts mehr anhaben konnte. Sie schleuderten Handgranaten und Nebelkerzen in die Öffnungen. Brennendes, dunkel qualmendes Flammöl fuhr in fauchendem Strahl durch die Scharten.
Schon ließ das Feuer nach, Luken öffneten sich. Mit erhobenen Händen kamen erdbraune Gestalten zum Vorschein.
Leutnant Heise, der vorgeschobene Beobachter der schweren Haubitzbatterie, befand sich, gefolgt von dem Funker Kranz, beim Kompanietrupp der sprungweise vorgehenden Infanterie. Dicht vor Heise rannte Hauptmann Martin, der Kompaniechef, den Hang hinauf, die Maschinenpistole schwenkend. Im Kreischen einer MG-Garbe warf der Hauptmann sich nieder. Heise sah es, als er gerade zum Sprung ansetzte. In diesem Augenblick warf ihn etwas hoch und schleuderte ihn hintenüber. Auf dem Rücken blieb er liegen, den Mund wie zu einer Frage geöffnet. Der Funker Kranz beugte sich über den Leutnant. Er sah die Einschüsse in Brusthöhe, sah das Blut, das die Feldbluse färbte.
»Sanitäter!«, rief er mit heiserer Stimme. »Sanitäter!«
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Kampflärm verstummt war.
Ein Sanitäter kam. Kopfschüttelnd sagte er: »Da gibt’s keine Hilfe mehr.« Er ging weiter, zu einem Verwundeten, der beide Fäuste gegen das schmerzverzerrte Gesicht presste.
Der Funker Kranz nahm sein Gerät vom Rücken.
»Ameise kommen – Ameise kommen!«
»Ameise« war der Deckname der B-Stelle.
Unteroffizier Heinbusch, der in der B-Stelle das Funkgerät bediente, notierte auf dem Meldeblock den vom »Vorgeschobenen« eintreffenden Spruch. Wortlos reichte er Hauptmann Kern, der am Scherenfernrohr kniete, das Blatt.
»Bunkerlinie genommen – Leutnant Heise gefallen.«
Der Batteriechef übergab Heinbusch das Kommando. Ein Melder wurde beauftragt, den Kübelwagen aus der Deckung heranzuholen.
Beim Einsteigen sagte Hauptmann Kern zum Fahrer Faltermann: »Leutnant Heise ist tot.«
Neben dem Feldweg, der zum Bunkergelände führte, näherte sich ein Zug gefangener Rotarmisten – die ersten Gefangenen. Sie trugen erdfarbene Uniformen. Mit ihren kahl geschorenen Schädeln, auf denen kleine, erdbraune Krätzchen saßen, wirkten sie wie gleichgeformte Wesen einer unheimlich fremden Welt.
»Teufel sind das«, knurrte Faltermann verbissen.
Der Hauptmann hörte es nicht. Er dachte an den Tag vor Epinal. An jenen Tag im Juni vor einem Jahr, kurz vor dem Waffenstillstand in Frankreich, als der Fähnrich Heise verwundet im Feuer der französischen Festungsartillerie gelegen hatte. Mit erlöschender Stimme hatte er die Position der feindlichen Geschütze und dann seine eigene Verwundung und den Tod seines Funkers gemeldet. Die Batterie hatte die feindliche Artillerie schließlich zum Schweigen gebracht. Sanitäter hatten Heise aus dem Trichter geborgen, in den er mit letzter Kraft gekrochen war. Das Tornister-Funkgerät, das er dem gefallenen Funker abgenommen hatte, war von Granatsplittern durchsiebt gewesen. Jetzt, beim ersten Sturmangriff des neuen Feldzuges, war der junge Heise, der beste B-Offizier des Regiments, vom Tod ereilt worden.
Am Fuß des Hanges, der zu den vom Flammöl geschwärzten Bunkern anstieg, verließ der Hauptmann den Wagen.
Der Funker Kranz kam dem Batteriechef entgegen. Pioniere und Infanterie hatten das Gefechtsfeld verlassen. Kampflos stießen sie ins Hinterland der im ersten Ansturm eroberten Befestigungslinie vor.
Kranz führte den Hauptmann zu dem Toten. Er lag in einer Reihe mit den übrigen Gefallenen. Man hatte Zeltbahnen über sie gedeckt. Der Hauptmann schlug die Zeltbahn vom fahl wächsernen Gesicht seines Leutnants zurück. Die eingesunkenen Augen des Toten waren geschlossen.
Faltermann kam hinzu. Sie trugen den Leutnant zum Wagen. Der Funker verstaute das Gerät. Der Hauptmann setzte sich neben den auf den Rücksitz gebetteten Toten. Er hielt den kraftlos pendelnden Kopf, wie um ihn vor den Erschütterungen der Fahrt über den holperigen Feldweg zu schützen.
Spät am Abend erschien Hauptmann Kern unerwartet in der Feuerstellung der Batterie. Seine Miene war verschlossen.
»Leutnant Heise ist tot«, sagte er zu Hohberg.
»Wie ist das geschehen, Herr Hauptmann?«, fragte der Batterieoffizier bestürzt.
Hauptmann Kern zuckte die Schultern.
»Ja, wie ist das geschehen? Eine MG-Garbe, vermutlich die letzte, bevor die Russen den Kampf bei den Bunkern einstellten. Sie übernehmen fürs Erste die B-Stelle, Hohberg. Ich habe Heise zum Tross gebracht. Morgen früh werden wir ihn begraben.«
Hauptmann Kern stieg wieder in seinen Wagen und fuhr ab.
Hohberg übergab Wachtmeister Binder, dem Führer der Geschützstaffel, den Befehl über die Feuerstellung. Dann schickte er einen Melder zur nahen Protzenstellung, wo bei den Zugmaschinen sein Wagen stand.
Eine Viertelstunde später befand er sich auf der Fahrt zur B-Stelle, die unterdessen auf einen mit Buschwerk bewachsenen Hügel zwei Kilometer jenseits der Bunkerlinie vorverlegt worden war.
Bei Dunkelheit traf er dort ein, nachdem er unterwegs von Pionieren aufgehalten worden war. Die Pioniere waren dabei, Minen zu räumen, die, wie der Offizier erklärte, der die gefährliche Arbeit überwachte, von den Russen unbemerkt erst kurz zuvor eingegraben worden waren.
Ruhig, verdächtig ruhig verging die Nacht. Nur im Nordosten flackerten Mündungsblitze von fernem Geschützfeuer. Knapp drei Kilometer vor der neuen B-Stelle hatte die Infanteriespitze angehalten. Dort fiel kein Schuss. Nur Leuchtkugeln stiegen von Zeit zu Zeit hoch und