Auch am Morgen ereignete sich nichts. Standen die Russen noch unter der Schockwirkung des Überraschungsangriffs und begannen sie erst jetzt, ihre Streitkräfte zu mobilisieren und zu gliedern?
Am frühen Vormittag traf der Batteriechef, vom Tross kommend, ein. Leutnant Hohberg verließ die B-Stelle, um sich zurück zur Feuerstellung zu begeben. An einer Weggabelung in einem Jungwald winkten zwei Landser. Der Gefreite Anschütz, Hohbergs Fahrer, sah den Leutnant fragend an. Hohberg nickte.
»Ja, halten Sie an!«
Auf die Frage, was sie wollten, antwortete einer der beiden: »Nehmen Sie uns mit, Herr Leutnant? Wir sollen beim Kompanietross Ersatz für ein ausgefallenes MG holen.«
»Die Mot-Truppen sind doch besser dran als wir Stoppelhopser«, sagte der andere, als sie einstiegen.
Hohberg beugte sich zurück und reichte den beiden seine Zigarettenpackung.
Der Jungwald blieb zurück. Der Weg senkte sich in einer Schleife der an dem Hang gestaffelt angelegten Bunkerlinie zu. Zur Linken neigte sich ein ausgedehntes Kornfeld, durch dessen hohe Halme der heiße Sommerwind wogend strich.
Die Stirnwand eines der vom Flammöl schwarz gefärbten Bunker war schräg zur Straße gerichtet.
Anschütz fuhr mit verminderter Geschwindigkeit um die abschüssige Kurve. Der Bunker kam näher. Etwa siebzig Meter waren es noch, als plötzlich aus den Schießscharten MG-Feuer und zugleich das trockene Bellen einer kleinkalibrigen Kanone schlug.
Der Soldat, der hinter Hohberg saß, schrie auf. Im gleichen Augenblick, während das Feuer aus dem Bunker sich rasend verstärkte, riss Anschütz den schleudernden Wagen in scharfem Bogen herum. Der Wagen war offen, das Verdeck heruntergeklappt.
»Raus!«, brüllte der Gefreite. Zugleich mit dem Landser, der den Sitz hinter dem Fahrer eingenommen hatte, hechtete Leutnant Hohberg über die Tür, kam, sich überschlagend, auf und warf sich mit einem Satz ins Getreide.
Mit dem vornübergesunkenen Verwundeten, der nicht hatte springen können, steuerte Anschütz den Wagen im Zickzack den Hang hinauf. Kreischend schwirrten Geschosse. Die Windschutzscheibe zersplitterte, schrill kreischend streiften Querschläger das Blech der Karosserie. Anschütz hielt das Lenkrad fest umklammert. Nicht aufgeben!
Der Verwundete auf dem Rücksitz schrie.
»Sei doch still!«, brüllte Anschütz.
Jetzt – die Höhe war erreicht. Noch zehn Meter! Anschütz brachte den Wagen zum Stehen und zündete sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette an. Er sah sich um. Der verwundete Landser hing bewusstlos zwischen dem Sitz und der Vorderlehne. Auf der Fußmatte hatte sich eine Blutlache gebildet. Auch der Feldblusenärmel des Verwundeten färbte sich rot.
Anschütz fuhr weiter. An der Wegegabelung im Jungwald hatte er zuvor ein Hinweisschild mit dem Rotkreuzzeichen gesehen.
Leutnant Hohberg war unterdessen im Feuerhagel immer tiefer in das Kornfeld gerobbt, ständig darauf bedacht, dass die Halme sich nicht zu heftig bewegten. Wenig später tauchte neben ihm der Landser auf, der zu gleicher Zeit mit ihm aus dem Wagen gesprungen war. Dicht über ihnen pfiffen in rascher Folge die Geschossgarben der Feuerstöße aus dem Bunker. Die Kanone schwieg.
Der Soldat hatte einen stark blutenden Streifschuss über dem linken Knie abbekommen. Im Liegen zog Hohberg ein Verbandspäckchen aus der Feldbluse und versorgte die Wunde. Sie krochen weiter, hielten an, wenn der Feuerhagel jäh zunahm, und setzten sich wieder in Bewegung, sobald der Beschuss etwas nachließ oder in anderer Richtung das Gelände abstreute, bis sie endlich eine Steilstufe erreichten, die volle Deckung bot, sodass sie sich aus ihrer verkrampften Haltung aufrichten und Atem holen konnten.
»Was war denn das?«, fragte der Landser, der an den Kragenspiegeln und den Schulterklappen das Schwarz der Pioniere trug. »Ich war doch gestern selbst dabei, wie wir den Bunker ausgeräuchert haben. Ne, Herr Leutnant, da kommt unsereiner nicht mehr mit.«
Ich auch nicht, dachte Hohberg. Seine Sorge galt Anschütz. War es dem Gefreiten gelungen, sich mit dem Wagen in Sicherheit zu bringen? Ich muss Gewissheit haben, sagte er sich, schon im Begriff, durch das Getreidefeld zum Weg zurückzurobben.
Der Feind im Bunker hatte das Feuer eingestellt. Hatte er sich verschossen, oder war es nur, weil er kein Ziel mehr sah?
Nach wenigen Metern hörte Hohberg hinter sich einen Ruf. Er blickte sich um. Aus einer nahen Kiefernschonung tauchte der Gefreite Anschütz auf. Anschütz im Stahlhelm, den Karabiner im Anschlag.Er kam heran und meldete, er habe den Wagen aus dem Feuerbereich und den Verwundeten, den es übel am Fuß und am Arm erwischt habe, zum nächsten Verbandsplatz gebracht.
»Das war ja der reinste Höllenspuk, Herr Leutnant«, setzte er hinzu. »Vom Verbandsplatz aus haben sie es gleich ans Regiment weitergegeben. Jetzt müssen die den Bunker noch mal nehmen.«
Sie führten den Landser mit dem Streifschuss, der vom Blutverlust schlapp war und über starke Schmerzen klagte, zum Verbandsplatz, wo Anschütz den Wagen abgestellt hatte.
»Jetzt ab zum Werkstatttrupp, ’ne neue Windschutzscheibe einsetzen«, meinte der Gefreite und zeigte Hohberg die Einschüsse, die der Wagen aufwies.
Auf der Karte suchte Hohberg einen Weg, der das Bunkergelände nicht berührte. In einem Dorf, das verlassen war wie alle Dörfer im grenznahen Bereich, fand er eine Nachrichten-Vermittlung und rief den Chef in der B-Stelle an. Es ging vor allem darum, dass die Straße durch die Bunkerlinie bis zur Ausschaltung der von den Russen wiederbesetzten Kampfanlage gesperrt wurde.
Als sie in der Feuerstellung ankamen, hieß es, der Gefreite Anschütz sei zum Regimentsgefechtsstand befohlen.
Der Lkw-Fahrer Winkowski, der gerade Munition in die Stellung brachte, sagte neckend: »Die verpassen dir bestimmt ’ne Zigarre wegen der kaputten Windschutzscheibe.«
Anschütz fuhr mit dem beschädigten Wagen zum Tross, wo sich der Werkstatttrupp eingerichtet hatte, und von dort mit einem Meldekrad zum Regimentsstab. Als er am frühen Nachmittag mit Leutnant Hohbergs Wagen zurückkam, trug er am schwarz-weiß-roten Band das EK II. Die Einschusslöcher am Wagen waren mit weißer Farbe umpinselt. Darunter war das Datum »23. Juni 1941« vermerkt.
Vom Batteriechef hatte Hohberg erfahren, dass ein Geschütz der Kanonenbatterie und die Sturmpioniere den Bunker am Feldweg soeben zum zweiten Mal angriffen. Kurz darauf rief der Hauptmann wieder an. Es war der Befehl zum Stellungswechsel. Durch einen Kradmelder sollte die Batterie eingewiesen werden.
Die neue Feuerstellung befand sich in einer Wiesenmulde. Die Angriffsrichtung hatte sich nunmehr geändert. Die Rohre zeigten nach Osten. Dort erstreckte sich ein ausgedehnter Wald, in dem sich nach den letzten Aufklärungsergebnissen Teile der 76. proletarischen Division, einer Eliteformation der Roten Armee, zum Gegenangriff bereitstellen sollten. Knapp einen Kilometer vom Waldrand entfernt hatte sich ein Infanterie-Bataillon eingegraben.
Die feindliche Artillerie, allem Anschein nach erheblich verstärkt gegenüber den ersten beiden Kampftagen, schoss Feuerüberfälle auf den Nachschubweg. Auch in der Nähe der Batterie Kern schlug es mehrmals ein. Brummend flogen gezackte Splitter bis zu den Geschützen.
Plötzlich setzte voraus heftiges MG- und Schützenfeuer ein. Fast zugleich kam von der B-Stelle durch den Fernsprechdraht der Befehl: »Sperrfeuer schießen!«
Ein Höllenlärm hob an, wie ihn seit der Aisne Anfang Juni 1940 in Frankreich niemand in der Batterie mehr gehört hatte. Mit entblößtem Oberkörper arbeiteten die Kanoniere an den Geschützen, schoben die zentnerschweren Granaten in die Rohre, rissen leer geschossene Kartuschen heraus und luden die Geschütze erneut.
Als eine Stunde später das Feuer eingestellt wurde, war auch das Getöse des Infanteriegefechts verstummt. Auf dem Weg, der durch die Mulde führte, rasten Sankas mit dem Rotkreuzzeichen mit hoher Geschwindigkeit nach rückwärts zum Verbandsplatz.
Auf dem Soziussitz eines Meldekrads kam Wachtmeister Spohrer, der vorgeschobene Beobachter der Kanonenbatterie, in die Feuerstellung der Haubitzen. Seine linke