Insel konnte auf zehn Jahre erfolgreiches Bestehen zurückblicken. Dr. Friedrich Norden, Daniels Vater, war es nicht mehr vergönnt gewesen, die Verwirklichung seines Lebenstraumes zu erleben, doch sein Freund Dr. Johannes Cornelius wirkte ganz in seinem Sinn, voller Güte und Verständnis für die seelischen Leiden der Patienten, die so oft die Ursache langwieriger Krankheiten waren. Oft war es ein Stück unbewältigter Vergangenheit, die zur Resignation führte. Auch Hedi begriff, daß sie manches nur verdrängt, aber doch noch nicht bewältigt hatte. Mehr als zwanzig Jahre hatte sie nichts anderes gekannt als Arbeit und die Sorge für und um Simone.
Jetzt gaben ihr Dr. Cornelius und seine Frau Anne ein Beispiel, wie positiv man zum Leben eingestellt sein konnte, auch wenn man viel Leid erfahren hatte. Davon waren auch sie nicht verschont geblieben. Beide waren schon einmal verheiratet gewesen und hatten ihre Partner früh verloren. Anne hatte lange um die Gesundheit ihrer Tochter Katja bangen müssen, die von einer Lawine verschüttet gewesen war, als sie gerade siebzehn Jahre alt war und dann viele Monate im Rollstuhl verbringen mußte, bedingt durch eine Schocklähmung. Jetzt war sie eine gesunde, glückliche Frau, verheiratet mit dem berühmten Pianisten David Delorme.
Anne erzählte Hedi davon mit der Absicht, ihr begreiflich zu machen, daß auch ein Künstlerleben sich glücklich gestalten konnte, da sie nun wußte, welches Ziel Simone ins Auge gefaßt hatte. Fee hatte es ihr berichtet.
Hedi hatte auch interessiert zugehört, dann aber sagte sie: »Das ist wohl eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Dagegen ist Alice wohl der Beweis, daß Ruhm allein nicht glücklich macht. Ich bin wirklich sehr froh, daß meine Tochter einer solchen Verführung nicht unterlegen ist.«
»Was meinen Sie mit Verführung, Hedi?« fragte Anne. »Als Künstler, gleich welcher Art, kann man doch anderen Menschen sehr viel geben. Wie leer wäre das Leben, wenn es keine Künstler gäbe. Sie sind doch auch eine Künstlerin.«
Ganz feine Röte stieg langsam in Hedis Wangen. »Für mich ist das mehr ein Handwerk«, sagte sie. »Und dabei gerät man nicht ins Rampenlicht. Man bleibt sich selbst treu.«
Anne gab es vorerst auf, mehr dazu zu sagen. Sie lenkte ab. »Ich möchte Ihnen mal ein paar Bilder zeigen, Hedi, und Ihre Meinung dazu hören.«
Die Bilder hingen im Wohnraum, Aquarelle in zarten, verschwimmenden Farben und doch von faszinierender Ausdrucksstärke.
»Wunderschön«, sagte Hedi andächtig. »Wer hat sie gemalt?«
»Ein Patient. Wir erwarten ihn morgen. Er kommt jedes Jahr zu uns. Er ist Rechtsanwalt.«
»Und kann solche Bilder malen?«
»Er hat hier damit angefangen, im reifen Alter von fünfundvierzig Jahren«, erklärte Anne mit einem feinen Lächeln.
»Den Wunsch zu malen hat er zeitlebens gehabt, aber sein Vater bestand darauf, daß er Jurist werden und seine Kanzlei übernehmen sollte. Er wollte seinen Vater nicht enttäuschen und wurde Anwalt. Er blieb das Anhängsel seines bekannten Vaters, bis dieser starb. Dann mußte er an dessen Stelle die Verteidigung einer Frau übernehmen, die ihren Freund erschossen hatte. Es war eine menschliche Tragödie, die ihn schwer erschütterte. Niemand traute dieser Frau einen kaltblütigen Mord zu, aber er wußte, daß es so war. Dennoch plädierte er auf Totschlag im Affekt, und sie bekam dafür vier Jahre. Die Tatsache, daß sie nicht die geringste Reue empfand, obgleich sie mit ihren Tränen Richter und Geschworene gerührt hatte, und daß letztlich seine Verteidigung dazu beigetragen hatte, daß sie eine so geringe Strafe bekam, quälte ihn so, daß er in schwerste Depressionen verfiel. Hier fand er zu sich selbst zurück und begann zu malen. Mehr will ich Ihnen jetzt nicht erzählen. Sie werden ihn kennenlernen.«
»Aber er ist wieder als Anwalt tätig?« fragte Hedi.
»Nicht mehr als Strafverteidiger.«
Erst später wurde es Hedi bewußt, was Anne ihr zu verstehen geben wollte. Jener Mann war Anwalt geworden, weil er seinen Vater nicht enttäuschen wollte. Er war nicht glücklich in seinem Beruf. Aber Simone hatte ihr doch nie zu verstehen gegeben, daß sie unzufrieden war.
Nein, unzufrieden war sie nicht, aber ausgefüllt wurde sie davon wohl auch nicht. Und wie war es bei ihr?
Sie hatte entworfen und gefertigt, was man von ihr verlangte und dem entsagt, wozu es sie drängte. Sie hatte dazu auch keine Zeit gehabt, weil sie Geld verdienen mußte. Aber hier hatte sie Zeit. Hier wurde sie nicht eingeengt.
Alice kam ihr entgegen. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Hallo, Hedi«, sagte sie.
Ja, sie sagte es! Hedi hielt den Atem an. Die Stimme klang leise, heiser, und dennoch konnte sie dieses »Hallo, Hedi« verstehen.
»Alice, Ihre Stimme!« stammelte sie.
Spontan wurde sie umarmt. »Es wird«, sagte Alice. Dann schob sie ihre Hand unter Hedis Arm, und sie gingen der Sonne entgegen.
*
Simone hatte ihr Pensum im Studio mit Bravour hinter sich gebracht. Rolf Hanson hatte allen Grund, mehr als zufrieden zu sein.
»Es war phantastisch, Simone«, sagte er und küßte sie auf die Wange. »Tut mir leid, daß ich noch zu tun habe und Sie nicht zum Hotel bringen kann. André wird gleich hier sein und das übernehmen.«
André war schon da, und er hatte gesehen, wie sein Vater Simone auf die Wange küßte. Er ließ es sich nicht anmerken, daß ihm das gar nicht paßte.
»Bin schon zur Stelle. Seid ihr fertig?« fragte er.
»Eine Tasse Kaffee könnten wir schon noch trinken«, meinte Rolf.
»Ich würde gern ein bißchen früher drinnen sein«, sagte Simone. »Ich muß mal mit meiner Kollegin sprechen. Sie hat mir gestern eine Nachricht hinterlassen.«
»Wenn es wieder Ärger gibt, rufen Sie mich an, Simone«, sagte Rolf.
»Und er läßt alles stehen und liegen«, brummte André, als sie zum Wagen gingen.
»lch möchte das keineswegs«, sagte Simone kühl.
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Ich hätte auch mit dem Bus fahren können.«
Er wurde verlegen. »Bin ich wieder mal etwas aus der Rolle gefallen, Simone? Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch.«
»Sie denken falsch, André, das möchte ich einmal deutlich sagen. Ihr Vater ist ein Gentleman und für mich so ein bißchen Vaterersatz, wenn Sie das nicht auch in die falsche Kehle kriegen.«
»Immerhin sind Sie aber ein Mädchen, das einen Mann um den Verstand bringen kann«, entfuhr es ihm.
»Ach, du liebe Güte!« lachte Simone auf, aber gleich wurde sie wieder ernst. »Sie sollten doch eigentlich wissen, daß Ihr Vater ein sehr treuer Ehemann und mit seiner Frau sehr glücklich ist. Wenn alle Ehen so wären, würde es weniger Unglück geben. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich zu einem Risikofaktor werde.«
»Paps deutete gestern an, daß Sie ins Filmgeschäft einsteigen werden«, sagte André stockend. »Für ihn sind Sie das Jahrhunderttalent.«
»Das mußte sich erst erweisen. Ich sehe das eigentlich ein bißchen nüchterner. Die Stimme allein macht es nicht, André.«
»Ich bin ja nicht blind«, sagte er mit einem seltsamen Ausdruck.
»Und ich gebe mich keinen Illusionen hin. Vorerst werde ich mein Debüt als Fernsehansagerin geben. Da fällt auch eine aus. Man wird sehen, wie ich ankomme. Ich sehe das ganz nüchtem, aber immerhin ist es für mich eine Verbesserung. Ich habe meine Stellung aus bestimmten Gründen gekündigt.«
Er versank in Schweigen. »Es wäre ja auch ein Jammer, wenn Sie so anonym verkümmern würden«, sagte er dann. »Ich bin auch der Meinung, daß Sie eine große Karriere machen können. Es wäre nur schade, wenn Sie auch so ein Schicksal erleiden wie Alice.«
»Können Sie mir sagen, welchen Einfluß wir letztendlich auf unser Schicksal haben, André?« fragte Simone nachdenklich.