hat sich dieser ja durch Flucht entzogen. André hat mit dem Portier gesprochen und mich angerufen.«
»Wieso mit dem Portier?« fragte Simone erstaunt.
»Weil der den Mann im grauen Anzug verfolgen wollte. Vergeblich allerdings, der war bereits wieder mal verschwunden. Aber André machte sich Gedanken, daß dieser Kerl Ihnen schaden konnte. Er hat dann erstaunlich schnell geschaltet. Der Mann im grauen Anzug ist derjenige, der sich ›von Bergen‹ nannte.«
»Das weiß ich schon von meiner Kollegin Anja«, sagte Simone. Und dann erzählte sie, was sie von Anja erfahren hatte.
»Es geht doch gar nicht um mich, Herr Hanson, es geht um Frau Valborg. Sie wird von diesem Mann verfolgt. Ihn hat nur meine Stimme irritiert. Und dadurch sind Sie doch auch erst auf mich aufmerksam geworden.«
»Aber ich habe gleich mit offenen Karten gespielt, Simone, dieser Mann nicht. Er gibt sich nur frech, aber er ist zu feige, und wahrscheinlich hat er Grund, sich zu verstecken.«
»Anja meint auch, daß er spinnt«, sagte Simone. »Allerdings hält sie ihn auch nicht für ungefährlich.«
»Wenn ich nur wüßte, wie er wirklich heißt, wie er zu fassen wäre, bevor er tatsächlich Schaden anrichtet.«
»Ich bin gewappnet, und wo Frau Valborg sich aufhält, weiß niemand außer uns.«
»Zumindest weiß er jetzt Ihren vollen Namen. Ich möchte, daß Sie bei uns wohnen, Simone.«
»So ernst nehmen Sie diese Geschichte?« fragte sie erstaunt.
»Vorsicht ist immer besser als Nachsicht. Übrigens ist André diesbezüglich auch meiner Meinung.«
Simone schwieg. Sie hatte ihre Hände ineinander verschlungen und schloß die Augen.
»Ich habe gestern abend noch mit meiner Mutter telefoniert«, sagte sie leise. »Frau Valborg geht es schon besser, und sie kann auch wieder sprechen. Noch nicht richtig, aber doch verständlich. Ich habe Mutti auch gesagt, daß ich eine andere Stellung angenommen habe.«
»Und was hat sie gesagt?« fragte er.
»Wörtlich sagte sie: ›Du bist mündig, aber für mich bleibst du mein Kind, um das ich mich sorge. Gerate nicht auf den falschen Weg.‹
»Darauf werde ich auch ein Auge haben, Simone.«
»Ziehen Sie die Möglichkeit in Betracht, Herr Hanson?«
»Man weiß nicht, in welcher Gestalt die Versuchung kommen kann«, meinte er lächelnd.
»Sie meinen in männlicher Gestalt«, lachte Simone auf. »Da braucht Ihnen und auch Mutsch nicht bange sein.
Obgleich an diesem Abend eine eher ernste Stimmung im Hause Hanson herrschte, hervorgerufen durch diesen Fremden, über den auch Irene sorgenvoll nachdachte, traten nicht die geringsten Spannungen aut. André und Vicky schienen ein Herz und eine Seele zu sein und dazu entschlossen, Simone auf Schritt und Tritt zu bewachen.
»Ich finde es ja rührend, wie besorgt ihr um mich seid, aber ich glaube, daß das nur ein Wichtigtuer ist, der irgendwie an Alice herankommen will«, sagte Simone.
Irene lenkte kurzerhand von diesem unerfreulichen Thema ab. »Wie wäre es denn, wenn wir mal mit dem formellen Sie Schluß machen würden?« schlug sie vor.
Simone errötete vor Freude darüber, so warm und herzlich war Irenes Blick auf sie gerichtet. André stürzte gleich davon, um eine Flasche Champagner zu holen, und dann wurden Umarmungen und Küsse ausgetauscht. Diesmal beobachtete André seinen Vater nicht mißtrauisch. Von ihm bekam Simone einen besonders zärtlichen Kuß, der wiederum von seinen Eltern schmunzelnd zur Kenntnis genommen wurde und Simone in einige Verwirrung stürzte. Aber dann herrschte eine fröhliche, gelöste Stimmung, und über den Mann im grauen Anzug wurde nicht mehr geredet. Der ging vor dem Haus auf und ab, in dem Simone wohnte, wurde immer gereizter, und tauchte dann aber rasch im Schatten eines entfernt stehenden Baumes unter, als ein Wagen nahte.
Aber Simone kam nicht allein, sie wurde von André und Vicky begleitet, und lange hielten sie sich nicht in der Wohnung auf. Simone hatte nur schnell einige Sachen eingepackt, die sie dringend brauchte, denn sie hatte zugestimmt, bei den Hansons zu bleiben, bis ihre Mutter zurückkommen würde. Noch konnte sie nicht ahnen, wie gut dieser Entschluß war. Keiner von ihnen bemerkte den Mann, der sich dicht an den Baumstamm drückte, als der Wagen vorbeifuhr und wendete. Aber dieser hatte Andrés Wagen erkannt. Die Nummer hatte er sich schon notiert, als André Simone zum Hotel brachte.
Während er krampfhaft überlegte, was er tun könnte, um sein Ziel zu erreichen, wurde bei den Hansons noch fröhlich weitergefeiert, allerdings nur bis Mitternacht. Dann konnte auch Simone sich in einem reizend eingerichteten Zimmer zur Ruhe begeben, und auf ihrem Gesicht lag ein glückliches Lächeln, als sie eingeschlafen war.
*
Alice und Hedi hatten sich sehr viel früher in ihre Schlafräume zurückgezogen, die nebeneinander lagen. Der Mond, fast voll, warf helles, kaltes Licht auf die Insel herab. Hedi konnte noch nicht einschlafen, Alice hatte an diesem Abend wieder Beruhigungstropfen bekommen.
Ihre Stimmungen schwankten noch immer und beeinträchtigten auch den Blutdruck.
Hedi dachte an das, was Mario, der Adoptivsohn der Cornelius ihr heute von der Wunderquelle erzählt hatte. Wenn man bei Vollmond um Mitternacht zu ihr ging, ihr Wasser trank und sich etwas dabei wünschte, sollte es in Erfüllung gehen.
An Wunder glaubte Hedi schon lange nicht mehr, und doch war jetzt in ihr die Hoffnung, daß Wunder geschehen könnten, da Alice ja auch verhältnismäßig rasch ihre Stimme wieder gebrauchen lernte. Und warum sollte sie sich nicht ganz von dem Zauber dieser Insel einfangen lassen, auf der schon so viele Menschen genesen waren, die ohne Hoffnung hierher kamen.
Sie dachte unwillkürlich auch an diesen Dr. Rassow, der so wunderschöne Bilder malen konnte, obgleich er niemals Malunterricht genommen hatte. Das hatte er ihr erzählt, als sie sich beim Zeitungskiosk getroffen hatten, wo Hedi sich Zeichenpapier besorgen wollte. Das gab es dort nämlich auch, da so mancher hier den Drang verspürte zu malen. Aber nicht nur das, manche begannen zu töpfern oder zu sticken, zu stricken oder zu weben.
Es gehörte zur Therapie. Es wurde nicht befohlen, nur angeregt. Erstaunlich war nur, was dabei vollbracht wurde, obwohl die Ausführenden oft gar keine oder nur geringe Vorkenntnisse besaßen. Hedi hatte sich schon sehr dafür interessiert und so manche fertige Arbeit bewundert. Es gab auch Männer, die zu stricken und zu sticken begannen, und keiner wurde belächelt.
War es nicht also schon ein Wunder, so viel Menschen verschiedenster Herkunft und Nationalität in solch eine harmonische Einheit zu integrieren, in der es keine Gegensätze zu geben schien?
Dr. Rassow hatte Hedi nicht gefragt, was sie mit dem Zeichenblock anfangen wolle.
Ihm waren die Spielregeln längst bekannt, an die man sich hier hielt. Nichts fragen, abwarten, wie ein anderer sich verhielt.
Es war Hedi, die zuerst eine schüchterne Frage stellte. Ob er seine Bilder auch verkaufe, kam es stockend über ihre Lippen.
»Ich lasse sie versteigern«, erwiderte er mit einem verschmitzten Lächeln.
»Versteigern?« staunte sie.
»Bei großartigen Veranstaltungen und für wohltätige Zwecke«, erklärte er. »Da bringen sie ganz hübsch etwas ein für Alten- und Kinderheime. Da ich selbst keine Familie habe, fand ich dies angebracht. Das Geld, das ich von denen bekomme, die oft wegen der läppischsten Dinge herumklagen, genügt mir zum Leben.«
»Manche klagen doch aber auch nur um ihr Recht«, meinte Hedi leise.
»Gewiß, und das auch mit Recht. Aber sie brauchen ja nicht zu zahlen, wenn sie ihr Recht bekommen, und ich bin wirklich sehr stolz, sagen zu können, das jeder, den ich vertreten habe, sein Recht bekam. Klingt das überheblich?«
»Es klingt gut. Wie gelingt es Ihnen, immer Recht zu bekommen?«
»Indem