»Ich bin eben auch klüger geworden.« Sie sagte es und entschwand.
*
Simone hatte eine anfängliche Unsicherheit schnell überwunden. Atemlos lauschten Rolf und Irene Hanson, wie sie Alices Rolle vortrug.
»Ich habe es doch gesagt, sie ist ein Naturtalent«, raunte Rolf seiner Frau zu. Da blickte Simone auf ihre Armbanduhr und sprang auf.
»Ich muß ins Hotel, es ist höchste Zeit«, rief sie aus.
»Wir bringen Sie hin«, sagte Rolf.
»Den Film lasse ich Ihnen dann morgen vorführen. Wann haben Sie Zeit?«
»Ab vier Uhr. Sie haben doch meinen Dienstplan«, meinte sie neckend.
»Den haben Sie mich vergessen lassen, als Sie die Rolle lasen«, sagte er. »Kein erfreulicher Gedanke, daß Sie sich jetzt wieder an eine Telefonvermittlung setzen.«
»Es muß sein, das hat schon Beethoven gesagt«, lachte sie. »Sie sind zufrieden mit mir?«
»Mehr als das. Sie hat der Herrgott in einer Sonntagslaune geschaffen.«
»Das hätte ich lieber mal von meiner Mutter gehört«, sagte sie gedankenverloren. »Vergessen Sie das, Herr Hanson.«
Auf der Fahrt zum Hotel schwieg sie. Sie hatte sich in das Drehbuch vertieft. Er tauschte ab und zu einen nachdenklichen Blick mit seiner Frau. Dann waren sie am Ziel.
»Ich hole Sie morgen hier ab, Simone«, sagte er.
»Aber bitte so, daß uns niemand zusammen sieht«, erwiderte sie. »Ich komme hinten raus zur Seitenstraße.«
»Abgemacht.«
»Und nach getaner Arbeit essen Sie bei uns, Simone«, sagte Irene herzlich.
Simone drückte ihr die Hand. »Ich habe nicht gedacht, daß ein Filmproduzent eine so liebe Ehefrau haben kann«, sagte sie leise. Ein zweistimmiges Lachen folgte ihr, als sie auf das Hotel zueilte. Da kam gerade ein Mann mittleren Alters heraus, der sie auf eine Weise anstarrte, daß es Aggressionen in ihr weckte.
Wenn Hanson so ein Typ gewesen wäre, hätte er eine gewaltige Abfuhr bekommen, dachte sie, aber ihr grimmiger Ausdruck wich, als der Portier sie freundlich begrüßte.
»Guten Tag, Toni«, sagte sie freundlich.
»Hat der Kerl Sie belästigt?« fragte der gutmütige Toni unwillig.
»Wieso?«
»Er hat eben nach Frau Valborg gefragt. Anscheinend ein Theateragent. Wissen Sie, warum Frau Valborg uns diesmal so schnell verlassen hat, Fräulein Simone?«
»Nein, Toni, aber mit so einem schmierigen Kerl hätte sie bestimmt kein Wort gewechselt«, erwiderte Simone. »Ich muß an die Arbeit.«
»Sind ja noch zwei Minuten Zeit«, meinte er schmunzelnd.
Anja Seeger nickte ihr zu, als sie eintrat.
»Du brauchst dich nicht zu überschlagen, Simmi«, sagte sie. »Es ist nicht viel los, seit die Valborg wieder weg ist.«
Simone hatte es nicht gern, wenn man sie Simmi nannte, aber ansonsten hatte sie an Anja nichts auszusetzen.
»Könntest du morgen mal länger für mich Dienst machen?« fragte Anja.
»Das geht leider nicht. Ich habe etwas Wichtiges vor, Anja. Tut mir wirklich leid. Für die nächste Zeit kann ich dir keinen Gefallen tun.«
»He, ein Mann?« fragte Anja. »Hat es geschnackelt?«
»Es muß doch nicht immer gleich ein Mann sein! Ich muß einer Kranken helfen«, redete sich Simone heraus, um weitere Fragen zu vermeiden. Und das war nicht mal eine Lüge. Sie leistete Alice Valborg Hilfe und zugleich auch Rolf Hanson. Aber für sie selbst war es ein Erlebnis, das sie völlig in Bann hielt. Als sie allein war, legte sie das Drehbuch aufgeschlagen neben sich hin. Sie lebte sich in die Rolle hinein. Und dann kam ein Anruf.
»Ist Frau Valborg jetzt im Haus?« fragte eine Männerstimme.
»Frau Valborg ist abgereist«, erwiderte Simone, nach einer kurzen Pause, während der sie ein anderes Gespräch vermittelte. »Mach doch nicht solche Witze, Alice«, sagte der Mann. »Ich kenne doch deine Stimme.«
»Hier ist die Vermittlung«, sagte Simone. »Frau Valborg ist abgereist.«
Ein blechernes Lachen. »Mich kannst du nicht täuschen, aber ich kriege dich schon zu fassen.«
Simone erschrak. Sie erschrak in doppelter Hinsicht. Einmal, weil die Stimme drohend geklungen hatte, zum andern, weil man ihre Stimme anscheinend tatsächlich mit der von Alice Valborg verwechseln konnte. Oder war sie schon so in die Haut dieser Frau geschlüpft, daß sie auch ihren Tonfall anpaßte?
An diesem Abend war sie froh, als ihr Dienst zu Ende war, und zum ersten Mal ließ sie sich von einem Taxi heimbringen. Sie konnte die Blicke fremder Menschen nicht ertragen, und sie hatte sich eingebildet, wieder jenen Mann zu sehen, der ihr schon mittags begegnet war. In ihrer Rolle als Julie war auch Alice Valborg vor einem Mann auf der Flucht, der sie erpressen wollte. Und plötzlich fragte sich Simone, ob es diese Rolle gewesen sei, die Alice Valborg Depressionen verursachte.
»Da bist du ja endlich«, wurde sie von ihrer Mutter empfangen. »Du siehst ganz erschöpft aus. Das ist doch zuviel, Simone.«
»Ach was, Mutsch, du hättest lieber um dich so besorgt sein sollen. Wieviel Überstunden hast du gemacht.«
»Halte mir das nicht immer vor, Simone. Stell dir vor, ich bekomme berühmte Gesellschaft auf der Insel der Hoffnung. Dr. Norden hat mich angerufen und mir gesagt, daß auch Alice Valborg mit Frau Schoeller fährt.«
»Du bist ja ganz aufgeregt, Mutsch«, staunte Simone.
»Sie ist doch eine großartige Schauspielerin. Ich hätte nie gedacht, daß ich sie mal persönlich kennenlerne. Wir müssen ungefähr in einem Alter sein. Sie hat eine Kehlkopfentzündung.«
»Ja, ich weiß«, entfuhr es Simone.
»Woher weißt du das?« fragte Hedi.
»Sie hat bei uns im Hotel gewohnt.«
»Du hast nichts davon erzählt.«
»Meine Güte, bei uns wohnen viele berühmte Leute, und ich sitze in meinem Raum. Ich bin nur dazu da, ihre Gespräche zu vermitteln. Und du hast doch was gegen Schauspieler.«
»Ich hätte nur was dagegen gehabt, wenn du Schauspielerin hättest werden wollen.«
»Vielleicht wäre ich genauso berühmt geworden wie Frau Valborg und hätte einen Haufen Geld verdient«, sagte Simone.
»Es ist ein weiter Weg, mein Kind, und manchmal endet er im Abgrund«, sagte Hedi leise. »Es sind nur wenige berufen.«
Simone sah ihre Mutter voll an. »Bitte, beantworte mir eine Frage ehrlich, Mutti«, sagte sie nachdenklich. »War es auch dein Wunschtraum?«
Hedi wich dem forschenden Blick aus. »Ja, aber es war ein kurzer Traum.«
»Der zerstört wurde, als ich mich ankündigte?«
»Du bist Wirklichkeit und viel mehr wert als ein Traum, Simone.«
Etwas in ihrem Gesichtsausdruck hielt Simone zurück, das zu fragen, was ihr auf der Zunge lag.
*
Um halb zehn Uhr verabschiedete sich Isabel Schoeller von Fee. »Dann werde ich meine beiden Schützlinge holen«, sagte sie. »Es war schön, daß wir mal wieder beisammen sein konnten, Fee.«
»Du sprichst aber nicht über Simone«, sagte Fee.
»Ich bin doch keine Klatschbase. Ich denke immer an das seelische Wohl unserer Patienten. Um eures brauche ich nicht besorgt zu sein, aber bleibt schön gesund, und besucht uns bald mal.«
»Es wird schon mal wieder