zu viel für Kevin«, wehrte sich Fee mit allen Mitteln.
»Was, wenn du dich irrst und sich Kevins Zustand durch eine Operation schneller verbessert als durch eine konservative Therapie?« Der Einwand ihres Bruders war berechtigt.
Trotzdem schüttelte Felicitas in aller Entschiedenheit den Kopf. Ihr Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, wippte im Takt dazu.
»Ich will dieses Risiko nicht eingehen.«
»Und Lammers will das Risiko nicht eingehen, noch länger abzuwarten«, gab Mario zu bedenken. »Ich selbst kann keine Entscheidung treffen.«
»Und jetzt?« Fee war sichtlich ratlos. Es ging ihr nicht darum, recht zu haben. Sie dachte einzig und allein an das Wohl des Kindes. Den richtigen Weg kannte nur der Himmel. »Wollen wir deine Glaskugel befragen?«, konnte sie sich eine Spur Sarkasmus nicht verkneifen.
Doch Mario brachte kein Lächeln zustande.
»Ich denke, wir sollten die Eltern mit ins Boot holen und ihnen die Entscheidung überlassen«, sprach der stellvertretende Klinikchef ein salomonisches Urteil aus.
Fee saß am Tisch und dachte nach. Viel zu oft war sie als Mutter schon vor so einer Entscheidung gestanden und hatte über Wohl und Wehe eines ihrer Kinder entscheiden müssen. Ihr ganzes Mitgefühl gehörte Kevins Eltern. »Gut, dann machen wir es so«, stimmte sie Marios Vorschlag schließlich zu. »Rufen wir die Eltern an. Sie sollen so schnell wie möglich in die Klinik kommen.«
Damit war Dr. Cornelius zufrieden und rutschte von der Tischkante.
»Ich werde alles Nötige veranlassen, damit wir uns in der nächsten Stunde treffen können. Andrea sagt dir noch Bescheid, ob das klappt.« Er nickte seiner Schwester zu und verließ ihr Büro ohne ein weiteres Wort.
Felicitas Norden saß an ihrem Schreibtisch und sah ihm nach, nichtahnend, dass nicht nur Kevin Trostbergs Leben an einem seidenen Faden hing.
*
Nach Urs Hansens Rauswurf hatte sich das gesamte Team der Praxis Dr. Norden zu einer Lagebesprechung am Tresen eingefunden.
»Ich habe bereits die restlichen Termine für diesen Nachmittag abgesagt«, erklärte Wendy. Als sie Désis Schrei gehört hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Zum Glück hatte nur ein Patient im Wartezimmer auf seine Behandlung bei Danny gewartet.
Während Janine losgelaufen war, hatte Wendy sich eine Ausrede einfallen lassen und Herrn Weber, versorgt mit einem neuen Termin, aus der Praxis komplimentiert. Dann hatte sie sich ans Telefon gesetzt und die restlichen Termine verschoben. Sie hielt den Hörer noch in der Hand, als sich ihre drei Kollegen sichtlich aufgelöst zu ihr gesellten.
»Rufen Sie die Bank an, ich brauche sofort eine Viertelmillion Euro. Egal, woher!«, befahl Dr. Norden in der ersten Verzweiflung.
Doch Danny schüttelte den Kopf.
»Zuerst rufen Sie bitte bei der Polizei an. Sie soll sofort kommen. Wenn möglich ohne großes Tamtam. Nicht, dass Urs noch nervöser wird als ohnehin schon und etwas tut, was er später bereuen wird.«
»Das wird er so oder so tun«, knurrte Dr. Norden senior und ballte die Hände zu Fäusten.
»Ganz ruhig, Dad!«, versuchte Danny, auf seinen Vater einzuwirken. »Dési ist nicht geholfen, wenn wir jetzt die Nerven verlieren.«
Daniel atmete ein paar Mal tief ein und aus.
»Schon gut. Es geht schon wieder.« Das war eine glatte Lüge, und er begann, mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Flur auf und ab zu gehen.
»Die Polizei ist in ein paar Minuten hier«, verkündete Wendy und legte den Hörer auf.
Auch sie war nervös wie selten zuvor in ihrem Leben. Sie stand auf und ging zur Garderobe.
»Was haben Sie vor?«, fragte Danny.
»Ich gehe raus und warte dort auf die Beamten.«
Stumme Blicke folgten ihr, als sie durch den Flur ging und die Praxis verließ.
»Die Ärmste. Ich möchte nicht wissen, was ihr jetzt alles durch den Kopf geht«, murmelte Janine voller Mitgefühl. Sie bemerkte die fragenden Blicke und fuhr fort. »Sie schreibt seit einer Weile mit einem Häftling Briefe und wollte ihn demnächst besuchen. Wenn ich mich nicht irre, ist sie sogar ein kleines Bisschen verliebt.«
»Man sollte jetzt nicht den Fehler machen und alle Gefängnisinsassen über einen Kamm scheren«, versuchte Daniel, trotz seiner Sorgen um Dési gerecht zu sein.
»Tatjana hat eine Freundin, die sich als Sozialarbeiterin um ehemalige Häftlinge kümmert«, meldete sich Danny zu Wort. Mit den Ellbogen auf dem Tresen gestützt stand er da und starrte aus dem Fenster. Die Minuten zogen sich wie Stunden in die Länge, und er war froh über dieses Gespräch, das wenigstens ein bisschen Ablenkung brachte. »Ihre Erfahrung hat sie gelehrt, dass viele der Knackis wahre Meister im Lügen sind. Nicht alle, aber viele«, wiederholte er.
»Ich gehe mal davon aus, dass sich Wendy keine Gedanken mehr darüber machen muss. Dieses Erlebnis wird ihre Verliebtheit im Keim ersticken«, mutmaßte Dr. Norden senior, als Leben in seine Sohn kam.
Ein Streifenwagen der Polizei war vorgefahren, gefolgt von einem Mannschaftswagen. Beide parkten vor der Praxis, und Wendy nahm die Beamten in Empfang.
*
Nichtahnend, was sich außerhalb des kleinen Behandlungszimmers abspielte, wurde Urs Hansen allmählich müde. Trotz seiner körperlichen Fitness war es anstrengend, seine Geisel ständig festzuhalten, und so sann er nach einem Ausweg, der schnell gefunden war.
Als sich sein Griff um Brust und Mund löste, wollte Dési schon aufatmen. Doch ihre Hoffnung sollte sich nicht erfüllen.
»Auf die Liege mit dir!«, befahl er und versetzte ihr einen Stoß, dass sie gegen die Behandlungsliege geschleudert wurde.
Dési keuchte und wollte schreien. Doch ihr Instinkt sorgte dafür, dass kein Laut über ihre Lippen kam. Wie Urs es befohlen hatte, legte sie sich auf die Liege. Ihr tränennasses T-Shirt klebte an ihrer Haut. Doch sie bemerkte es nicht, während sie ihm dabei zusah, wie er in den Sachen auf dem Boden wühlte. Dabei wirkte er gesund und munter wie ein Fisch im Wasser.
»Das mit dem Husten war gelogen, oder?«, entfuhr es ihr, und sie zog automatisch den Kopf ein.
Doch Urs wurde nicht etwa böse, sondern lachte auf. Genauso stellte sich Dési das Lachen des Teufels vor.
»Gar nicht schlecht, was? Sogar deine Alte ist drauf reingefallen. Und sie ist eine gute Ärztin.«
»Die Beste«, gab Dési tapfer zurück und dachte fieberhaft nach. »Sie ist auch die beste Mutter. Wie deine bestimmt auch. Denkst du nicht drüber nach, was du deiner Mutter antust?«, versuchte sie, ihn bei seiner Ehre, seinen Gefühlen zu packen. Doch diese Eigenschaften schienen Urs schon vor langer Zeit abhanden gekommen zu sein.
»Meine Mutter?« Er lachte wieder und winkte ab. »Die interessiert sich einen Dreck für mich. Hat nur ihr eigenes Leben im Kopf.« Er hielt kurz inne und dachte nach. »Wenn ich eine Mum hätte wie du und deine Geschwister…« Einen Augenblick lang meinte Dési, Trauer in seinen Augen zu sehen. Doch der Moment verging, und Urs schüttelte ärgerlich den Kopf. »Hör gefälligst auf, mir solche Fragen zu stellen.«
Inzwischen hatte er gefunden, wonach er gesucht hatte, und richtete sich auf. Er klemmte die Schere zwischen die Zähne. Neben der Liege stehend riss er die Verbandpäckchen auf. Dési sah ihm mit großen Augen dabei zu.
»Was hast du vor?«
Urs nahm die Schere aus dem Mund und klemmte sie zwischen die Beine.
»Was wohl? Ich muss doch dafür sorgen, dass mir mein Täubchen nicht weg fliegt.« Mit diesen Worten wickelte er den Verband ab und begann, Désis Oberkörper an der Liege festzubinden. Hilflos musste sie dabei zusehen, wie sie zur Reglosigkeit verdammt wurde, und erneut begannen die Tränen