erinnerte sie sich. »Außerdem hat es mir imponiert, dass er so mutig war und auf diesem Weg Kontakt zu seiner Außenwelt aufgenommen hat.«
Darüber hatte Janine noch nicht nachgedacht und musste ihrer Freundin und Kollegin recht geben.
»Bestimmt wollten viele Verwandte, Bekannte und Freunde nichts mehr von ihm wissen«, mutmaßte sie.
Wendy nickte.
»Das ist auch der Grund, warum Manfred die Anzeige aufgegeben hat. Denn irgendwann wird er ja wieder entlassen. Und dann ist es doch schön, wenn man sich schon einen neuen Bekanntenkreis aufgebaut hat.« Wendy saß am Schreibtisch und dachte an die Briefe, die sie getauscht hatten.
»Und du bist dir ganz sicher, dass du ihn besuchen willst?«, fragte Janine in ihre Gedanken hinein. »Lass mich raten: Bestimmt sollst du ihm einen Kuchen mit Feile mitbringen.«
Über diese Vermutung lachte Wendy, aber viel zu schnell wurde sie wieder ernst. Nach einem weiteren Schluck Kaffee stellte sie die Tasse auf den Tisch. Sie schaltete ihren Computer ein, ehe sie sich zu Janine umdrehte.
»Nein, bin ich überhaupt nicht«, gestand sie und lachte. »Als ich ihm auf seine Anzeige geantwortet hatte, dachte ich, das sind ja nur Briefe. Ich hatte nie vor, ihn persönlich kennenzulernen. Und er hat mich weder um einen Kuchen noch um sonst einen Gefallen gebeten.«
»Und warum willst du ihn dann doch besuchen?«, stellte Janine eine berechtigte Frage.
Wendy zuckte mit den Schultern.
»Weil er ein netter Mensch ist.«
»Aber er ist auch ein Verbrecher«, konterte ihre Kollegin unbarmherzig.
»Das stimmt. Vielleicht will ich ihn auch kennenlernen, um herauszufinden, ob das, was er mir schreibt, zu dem Menschen passt, der er wirklich ist.«
Janine schmunzelte.
»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Draufgängerin bist.«
»Ich auch nicht«, gestand Wendy. »Deshalb bin ich umso gespannter auf das, was der Chef über diesen Verwandten erzählt, um den sich Fee kümmern soll. Du weißt schon. Den Freigänger. Vielleicht erfahre ich ja was, was ich noch nicht bedacht habe, und kann es mir nochmal überlegen.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Daniel Norden kam herein. Er begrüßte seine beiden Assistentinnen und hängte seine Jacke an die Garderobe. Wendy holte inzwischen eine weitere Tasse Kaffee und stellte sie auf den Tresen.
»Vielen Dank!« Nach ein paar ebenso freundlichen wie belanglosen Worten wollte er in sein Sprechzimmer gehen, als ihm etwas einfiel. Auf halbem Weg drehte er sich noch einmal um. »Ach, übrigens kommt heute um vier ein Patient vorbei, der nicht angemeldet ist. Es handelt sich um den Freigänger, um den Fee sich kümmern soll. Er heißt Urs Hansen. Wenn Sie ihm bitte eine halbe Stunde von Désis Termin abgeben?« Damit wandte er sich ab und ging den Flur hinunter. Das leise Klacken der Tür zeugte davon, dass er sein Ziel erreicht hatte.
Die beiden Assistentinnen tauschten vielsagende Blicke.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich meinen Erfahrungsschatz so schnell aufstocken kann«, murmelte Wendy.
»Wer weiß, wofür es gut ist«, gab Janine zurück und wandte sich lächelnd an den ersten Patienten des Tages, der eben die Praxis betreten hatte.
*
Volker Lammers war noch nicht in der Klinik, als Felicitas Norden die Untersuchung des Liquors bei Kevin Trostmann anordnete. Danach musste sie für mehrere Stunden in den Operationssaal.
»Gute Arbeit, Schwesterherz!«, lobte Mario Cornelius ihre Fähigkeiten, als sie nach dem Eingriff nebeneinander am Waschbecken standen.
»Oh, ein Lob aus dem Munde des Chefs«, scherzte Fee. »Das muss ich glatt im Kalender notieren.«
Ihr war noch nicht bewusst, welchen Fehler sie gemacht hatte, bis Mario die Faust in die Luft reckte. Wassertröpfchen flogen umher.
»Macht zehn Euro für die Kaffeekasse!«, triumphierte er.
»Nein, nein, dieses Spiel mache ich nicht mit«, setzte sich Felicitas zur Wehr. »Gestern zehn Euro, heute zehn Euro … dafür kann ich zu Hause einen ganzen Monat lang Kaffee trinken.«
»Aber der schmeckt nicht so gut wie der, den Frau Sander für mich kocht«, versprach Mario. »Hast du Lust auf eine Tasse? Ich lade dich ein«, machte er ein Angebot zur Versöhnung.
»Geht leider nicht.« Fee griff nach dem Handtuch und trocknete sich ab. »Ich habe eine Untersuchung in Auftrag gegeben und will unbedingt wissen, was dabei herausgekommen ist.« Sie lächelte ihren Bruder an. »Ein andermal vielleicht.«
»Eine würdige Vertreterin habe ich mir da ausgesucht«, lobte der Chef der Pädiatrie das Engagement seiner Schwester. »Dann heb ich dir eine Tasse auf.«
»Eine Tasse für zwanzig Euro … du bist zu gütig!« Fee zwinkerte ihm zu, ehe sie den Vorraum des Operationssaales verließ und den Flur hinunter eilte in Richtung ihres Büros. Dort angekommen, durchsuchte sie sofort die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Vergeblich. Obwohl sie Anweisung gegeben hatte, den Laborbericht dort abzulegen, war er nirgendwo zu finden. Fee griff nach dem Hörer, als Schwester Anita den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Tut mir leid, wenn ich störe, Chefin. Aber wissen Sie zufällig, wo die Patientin Ada Jacobs steckt? Ihre Tante ist hier und will sie besuchen. Aber ich kann sie nirgendwo finden.«
Über diese Frage musste Felicitas Norden nicht nachdenken. Sie selbst hatte das Mädchen am Morgen in den Kindergarten geschickt.
»Wahrscheinlich ist sie gerade mit den anderen Kindern beim Essen. Die Tante soll doch bitte so lange in der Cafeteria warten. Nach der Mittagspause kann sie Ada vom Kindergarten abholen.«
»Gut, dann richte ich ihr das aus.« Anita wollte schon davon eilen, als Fee sie aufhielt.
»Moment. Ich habe auch eine Frage.«
»Ja?« Blitzschnell überlegte die junge Schwester, ob sie etwas vergessen hatte, kam aber zu dem Schluss, sich keiner Schuld bewusst zu sein.
»Ist der Laborbericht von Kevin Trostmann noch nicht da?«, erinnerte Fee sie an ihr Versprechen, die Unterlagen auf dem Schreibtisch zu deponieren.
Schwester Anita blickte verwundert drein.
»Aber Dr. Lammers ist doch jetzt für den Fall verantwortlich. Er hat mir den Umschlag aus der Hand genommen und versprochen, dass das so in Ordnung ist«, erklärte sie mit Unschuldsmiene. »War das falsch?«
»Ja«, entfuhr es Felicitas, und sie machte keinen Hehl aus ihrem Ärger. »Allerdings trifft Sie keine Schuld. Sie konnten ja nicht wissen, dass der Kollege nicht die Wahrheit sagt. Es ist nicht sein Fall.«
»Ist das nicht egal?«, stellte die Schwester eine berechtigte Frage. »Hauptsache, es kümmert sich überhaupt jemand um den Patienten.«
Fee lag eine Bemerkung auf der Zunge, die sie sich aber im letzten Moment verkniff.
»Sie haben recht«, bestätigte sie der Einfachheit halber und entließ die Schwester.
Gleich im Anschluss machte sie sich auf die Suche nach Dr. Lammers und fand ihn im Aufenthaltsraum der Ärzte. Umringt von einigen Kollegen saß er am Tisch. Er war so in seine Rolle als Wortführer vertieft, dass er nicht bemerkte, wie seine Chefin das Zimmer betrat. Fee gab ihren Mitarbeitern ein Zeichen, sie gar nicht zu beachten, verschränkte die Arme vor dem Körper und lehnte sich an einen Schrank neben der Tür.
»Anhand dieser Ergebnisse können wir also eins und eins zusammenzählen«, fuhr Volker Lammers mit seinen Ausführungen fort. »Das Ergebnis ist…«
»Zwei«, entfuhr es Simon Wertheim, einem Kollegen, den Fee sehr schätzte.
Alle lachten. Nur Volker Lammers verzog keine Miene.
»Hahaha«, bemerkte er und klatschte drei Mal in die Hände. Das Lachen der Ärzte versickerte.