auf, wohlwissend, dass sie die Sache falsch angepackt hatte. Wenn sie die kluge Ärztin auf ihre Seite ziehen wollte, musste sie andere Mittel verwenden. »Aber finden Sie nicht auch, dass diese Frau viel zu alt für Dr. Cornelius ist?«
Nicht genug damit, dass auch diesmal die erhoffte Reaktion ausblieb, blieb Felicitas Norden mitten auf dem Flur stehen und sah die junge Lernschwester so ernst an, dass der das Herz in die Kniekehlen rutschte.
»Meine liebe Carina!« Fees Ton ließ keine Missverständnisse zu. »Wenn ich mich recht erinnere, hatten Sie Ihre Chance bei meinem Bruder und waren nicht in der Lage, sie wahrzunehmen«, erklärte sie scharf. »Wenn Sie darüber enttäuscht sind, ist das eine Sache. Eine andere ist es, Ihre Enttäuschung an anderen Menschen auszulassen. Das ist mit Sicherheit der falsche Weg«, ließ sie keinen Zweifel an ihrer Meinung, und mit jedem Wort wurde die junge Lernschwester kleiner. »Glücklicherweise leben wir in einer Zeit, in der jeder Mensch frei in seinen Entscheidungen ist und lieben kann, wen er für richtig hält. Das ist eine große Errungenschaft, die man nicht genug schätzen kann, finden Sie nicht?« Fee schickte Carina einen eindringlichen Blick.
Die junge Schwester konnte nicht anders, als ihn zu erwidern und beschämt zu nicken.
»So war das nicht gemeint. Tut mir leid«, entschuldigte sie sich zerknirscht.
»Schon gut.« Fee hätte noch viel dazu sagen können, verzichtete aber darauf. Inzwischen hatte sie ihre Pläne geändert. »Ich muss noch schnell bei der Chefin vorbeischauen. Sagen Sie Mario bitte Bescheid, dass ich ein paar Minuten später komme?«
»Klar!«, stimmte Carina zu und machte sich nach einem kurzen Gruß auf den Weg in die Pädiatrie.
Wenn Felicitas aber gedacht hatte, die junge Lernschwester ein für alle Mal in ihre Schranken verwiesen zu haben, so täuschte sie sich gewaltig. So leicht wich Carina nicht von einem einmal gefassten Entschluss ab und nahm sich vor, ihren Joker Janni Norden auszuspielen. Der jüngste Sohn der Familie Norden schuldete ihr einen Gefallen, den sie jetzt einlösen würde. Und sie hatte auch schon eine Idee, was er für sie tun sollte.
*
Von all diesen Gedanken ahnte Felicitas Norden nichts, als sie ein paar Minuten später in Jenny Behnischs Vorzimmer trat.
»Guten Morgen, Andrea!«, begrüßte sie die Assistentin der Klinikchefin, die gerade Kaffee aus einer Glaskanne in eine Thermoskanne umfüllte.
»Den wünsche ich Ihnen auch«, gab Andrea Sander nicht halb so munter wie sonst zurück und stellte die Kanne zurück in die Maschine. »Eine Tasse Kaffee, bevor Sie sich in die Höhle des Löwen wagen? Ganz frisch.«
»Nein, danke«, lehnte Fee ab. »Aber wenn Sie wollen, übernehme ich gern den Service für Sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie nach dem Tablett, das die aufmerksame Assistentin bereits vorbereitet hatte.
Zucker und Milch fehlten ebenso wenig wie frisches Gebäck aus der Bäckerei Bärwald, die inzwischen für die Backwaren in der Chefetage der Klinik zuständig war.
»Aber das müssen Sie nicht!«, rief Andrea ihr leise nach. »Die Chefin hat heute wirklich ausnehmend miserable Laune.«
»Vielleicht hab ich was, was sie aufmuntern kann«, bemerkte Fee hoffnungsvoll und trat auf Jennys Tür zu.
»Ich wünsche einen wunderschönen guten Mor …« Mitten im Satz hielt sie inne.
Das Wort war ihr im Hals steckengeblieben, als sie ihre langjährige Freundin und Kollegin sah. Jennys Anblick übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen.
In sich zusammen gesunken saß die sonst so dynamische Klinikchefin am Tisch. Sie war ungewöhnlich blass, und ihre Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen. Durch die streng zurückgekämmten Haare wirkte ihr Gesicht spitz, als sie den Kopf hob und Felicitas ansah.
»Freut mich, wenn der Morgen für dich schön ist«, begrüßte sie die Freundin düster und lehnte sich zurück.
Sofort musste Fee an Romans Besuch vom vergangenen Abend denken, und ihr wurde kalt und heiß zugleich. Hatte er seine Drohung schneller als angenommen wahr gemacht?
»Stimmt was nicht?«, fragte sie scheinheilig und stellte das Tablett auf den niedrigen Tisch in der Besucherecke.
Während sie zwei Tassen Kaffee einschenkte, war sie bedacht darauf, das leise Zittern ihrer Hände vor der Freundin zu verbergen.
Jenny antwortete nicht sofort. Sie seufzte, dann gab sie sich einen Ruck und stand auf, um sich zu Fee zu gesellen.
»Im Augenblick scheint das Schicksal nicht auf meiner Seite zu sein.« Einen Moment überlegte sie, ob sie Fee von der Begegnung mit ihrer Cousine Nicole Ziegler erzählen sollte. Da sie aber mit Kritik rechnen musste, verzichtete sie lieber darauf, Fee in ihre Familiengeheimnisse einzuweihen. »Ich war doch gestern mit Roman zum Essen verabredet«, erzählte sie lieber von ihren Beziehungsproblemen. »Dummerweise kam es, wie es kommen musste, und ein Notfall rief mich in die Klinik. Als ich irgendwann nachts nach Hause kam, war ein Anruf auf dem Anrufbeantworter. Roman stellt mir ein Ultimatum. Kannst du dir das vorstellen?«, schützte Jenny Empörung vor.
Um Zeit zu gewinnen, mischte Fee ihren Kaffee mit Milch und Zucker und rührte sorgfältig um. Dabei überlegte sie, ob sie der Freundin vom Besuch ihres Lebensgefährten berichten sollten.
»Wenn ich sehe, wie viel du arbeitest und wie wenig Zeit ihr miteinander verbringt, kann ich ihn eigentlich ganz gut verstehen«, entschied auch sie, ihr Geheimnis für sich zu behalten. »Mal abgesehen davon, dass du wirklich alles andere als gut aussiehst und eine Auszeit brauchen könntest.«
Eine düsterte Wolke verfinsterte die Miene der Klinikchefin. Sie wusste, dass Fee recht hatte. Und doch konnte sie ihr eigenes Versagen nicht eingestehen.
»Ehrlich gesagt hatte ich mir von dir mehr Verständnis erwartet«, flüchtete sich Jenny lieber in einen Vorwurf. »Wenn jemand weiß, wie anstrengend unser Beruf ist, dann bist doch du das. Immerhin hast du jahrelang unter Daniels häufiger Abwesenheit und ständiger Abrufbarkeit gelitten. Wieso fällst du mir jetzt in den Rücken? Hast du eure schweren Zeiten schon vergessen?«, fauchte sie so schroff, wie Felicitas sie selten erlebt hatte.
Doch die kluge Ärztin machte nicht umsonst eine Ausbildung zur Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sofort ahnte sie, dass mehr hinter Jennys Ärger stecken musste, als sie zugeben wollte.
»Nein, das habe ich nicht vergessen«, erwiderte sie überraschend sanft und wunderte sich selbst über die Ruhe, die sie plötzlich fühlte. »Aber Daniel und ich haben nie unsere Ehe, unsere Liebe aus den Augen verloren. Selbst in den turbulentesten Zeiten haben wir uns darum bemüht, wenigstens ein paar intensive Stunden zusammen zu verbringen. Einen Tag zu zweit in den Bergen, ein Wochenende in einem schönen Hotel, weitab von Arbeit und Stress.« Felicitas setzte ein Lächeln auf und griff in die Tasche, um den Hotelgutschein hervor zu holen. »Vielleicht solltet ihr mal dasselbe …«
»Soll ich mich jetzt auch noch an den Computer setzen und ein Hotel suchen?«, fuhr Jenny Behnisch ärgerlich dazwischen.
Lächelnd schüttelte Fee den Kopf.
»Die Hotelfrage ist bereits geklärt!« Sie war stolz auf sich, dass sie so ruhig blieb.
Mit einer federleichten Bewegung legte sie den Gutschein auf den Tisch zwischen sich und Jenny.
Argwöhnisch, als handle es sich um eine Briefbombe, betrachtete die Klinikchefin den Umschlag.
»Was ist das?«
»Ein Hotelgutschein«, erwiderte die Ärztin bereitwillig. »Daniel hat ihn von einer Patientin bekommen. Wir selbst haben im Augenblick keine Verwendung dafür und dachten uns, diese Gelegenheit könntest du mit Roman wahrnehmen.«
Tiefes Schweigen erfüllte das Büro der Klinikchefin, während sie über dieses Angebot nachdachte. Auf Andrea Sanders Schreibtisch klingelte das Telefon, Schritte eilten auf dem Flur vorbei. Sonst war nichts zu hören.
»Vielleicht ist das wirklich keine schlechte Idee«, rang sich Jenny schließlich