auf Marianne ein. Er suchte und fand ihren Blick und hielt ihn fest. »Du bist stark, intelligent und unabhängig, hast ein Kind großgezogen und einen Beruf, mit dem du dich ernähren kannst. Du hast Lebenserfahrung und bist klug und selbstsicher. Und wunderschön obendrein. Eine Traumfrau wie aus dem Bilderbuch. Meine Traumfrau!«
Marianne hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dieser offensichtlichen Liebeserklärung. Überwältigt von den widersprüchlichsten Gefühlen suchte sie verzweifelt nach den richtigen Worten.
»Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll«, stammelte sie endlich so hilflos, dass Marios Herz noch weiter wurde.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, zeigte sie ihm ihre weiche, verletzliche Seite, ohne die auch ihre starke Seite nichts wert gewesen wäre.
»Du musst nichts sagen. Wenn du es dir zutraust, es mit mir zu versuchen, könntest du mich auch einfach küssen«, bot er heiser an und zog sie an den Händen zu sich.
»Nur, wenn du die Verantwortung übernimmst«, hauchte sie überwältigt.
»Nichts lieber als das!«, gab Mario zurück und ließ seinen Worten Taten folgen, die Marianne nicht mehr so schnell vergessen sollte.
*
Es war tief in der Nacht, und Jenny Behnisch wusste nicht, wie lange sie schon auf dem Stuhl am Bett ihrer Cousine saß und den Geräuschen der Geräte und Maschinen lauschte, die Nicole mit all dem versorgten, was sie im Augenblick brauchte. Lange hatte die Klinikchefin ihren Gedanken nachgehangen. Sie war tief hinabgetaucht in die Vergangenheit, die sie jahrelang erfolgreich verdrängt hatte. Doch Nicoles Anblick hatte genügt, um alles wieder ans Tageslicht zu holen, und Jenny dachte darüber nach, bis sie den Schmerz nicht mehr ertrug. Leise seufzend kehrte sie in die Gegenwart zurück und stand auf. Sie reckte und streckte sich, ehe sie den Weg zur Tür antrat. Doch eine krächzende Stimme in ihrem Rücken ließ sie innehalten.
»Ja, hau nur ab!«
Erschrocken fuhr Jenny herum. Sie hatte nicht geahnt, dass ihre Cousine wach war.
»Nicole!«
»Sieh mal einer an! Du erinnerst dich also noch an meinen Namen.« Nicole lachte krächzend. Doch es klang nicht froh. Ganz im Gegenteil. »Warum hast du mich operiert? Das lass ich mir nicht gefallen.«
Inzwischen hatte sich die Klinikchefin halbwegs von ihrem Schrecken erholt.
»Du warst schon immer stur. Daran scheint sich in all den Jahren nichts geändert zu haben«, erwiderte Jenny und kehrte schweren Herzens ans Bett ihrer Cousine zurück. Im schwachen Schein des Nachtlichts konnte sie ihre blassen Züge erkennen. »Außerdem hatte ich das Recht, dich zu behandeln. Immerhin gehöre ich zur Familie. Ob dir und mir das passt oder nicht.« Ihre Stimme war ruhig und besonnen. Und doch schwang ein Unterton mit, der Jennys Gefühle verriet.
Ein hämisches Grinsen verzog Nicole Zieglers Gesicht.
»Und du hast dich schon immer gut gefühlt, wenn du über andere bestimmen konntest«, beschuldigte sie ihre Cousine erbarmungslos. »Das, was andere wollen, hat dich nie interessiert. Und tut es offenbar immer noch nicht.«
Für diesen Kommentar hatte Jenny nur ein unwilliges Schnauben übrig.
»Das sagt genau die Richtige.« Sie stand an Nicoles Bett und blickte fassungslos auf ihre Cousine hinab. »Wer hat mir denn damals den Mann ohne Rücksicht auf Verluste ausgespannt?« Jenny verachtete sich dafür, dass ihre Stimme bebte. Und auch dafür, dass ihre Neugier siegte. »Seid … seid ihr immer noch zusammen?«
»Warum willst du das wissen?«, machte Nicole ihrem Unglauben lautstark Luft. »In Wahrheit interessiert dich das doch gar nicht. Sonst hättest du auf meine E-Mails und Telefonanrufe geantwortet«, sagte sie Jenny auf den Kopf zu.
Im Laufe der Jahre hatte die Klinikchefin viele Erfahrungen gesammelt. Es gab kaum etwas, was sie noch aus der Ruhe bringen konnte. Doch ausgerechnet Nicole schaffte das schier Unmögliche. Zitternd vor Wut stand Jenny am Bett. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und starrte auf ihre Cousine hinunter.
»Willst du wissen, warum ich nicht geantwortet habe?«, fragte sie schließlich. »Weil ich wusste, dass du dich nicht geändert hast. Weil es sinnlos ist, mit dir zu reden. Damals wie heute. Das hast du mir gerade mehr als deutlich gezeigt.« Mit diesen bitteren Worten machte Jenny auf dem Absatz kehrt, um das Zimmer endgültig zu verlassen.
Nicole lag im Bett und sah ihrer Cousine nach. Diesmal machte sie keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Sie wusste, dass es ein Wiedersehen geben würde, ob sie selbst das wollte oder nicht. Diesmal hatte das Schicksal für sie beide entschieden.
*
»Kann es sein, dass du manchmal ein bisschen zu frech zu deiner Chefin bist?«, erkundigte sich Fee Norden, als sie am nächsten Morgen neben ihrem Zweitältesten im Wagen saß und wie inzwischen jeden Morgen gemeinsam mit ihm in die Klinik fuhr. »Es könnte ja sein, dass Silvie Riemerschmidt deshalb so erbarmungslos ist, weil sie ein völlig falsches Bild von dir hat.« Als verantwortungsbewusster Mutter ließ sie das Verhältnis der Ergotherapeutin zu ihrem Sohn natürlich nicht kalt, und Felicitas dachte darüber nach, was in diesem Fall zu tun war.
Doch Felix schien die Sache wesentlich weniger zu beschäftigen, als sie gedacht hatte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte er und grinste unbekümmert wie immer, während er in eines der Croissants biss, die seine Mutter noch schnell in der Bäckerei Bärwald gekauft hatte. Über Nacht hatte sich seine schlechte Laune in Luft aufgelöst und er strahlte wieder wie eh und je in die Welt. »Ich bin nicht frech. Höchstens verbal überlegen, aber dafür kann ich ja nichts. Das ist deine und Dads Schuld.«
»O je«, seufzte Fee und verdrehte die Augen. »Allmählich wundert mich gar nichts mehr.« Sie setzte den Blinker und fuhr wenig später auf den Mitarbeiter-Parkplatz der Behnisch-Klinik. »Bist du heute Abend zum Abendessen daheim?«, fragte sie noch, ehe sich ihre Wege trennten.
»Susa und ich gehen in die Therme«, verneinte Felix und drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Wir beide werden erst morgen früh wieder das Vergnügen miteinander haben. Aber ich freu mich jetzt schon auf dich.« Er schenkte Fee einen letzten strahlenden Blick und machte sich dann auf den Weg in die Neurologie, an die die Ergotherapie angeschlossen war.
Kopfschüttelnd sah Felicitas ihrem unbekümmerten Sohn nach, ehe sie von einer bekannten Stimme aus ihren Betrachtungen gerissen wurde.
»Frau Dr. Norden, Sie sind ja auch schon da!«, rief Lernschwester Carina über den Parkplatz und verfiel in Laufschritt, nachdem sie Mario Cornelius‘ Schwester entdeckt hatte. »Da können wir ja zusammen auf die Station gehen.«
Felicitas wusste, woher das Interesse der jungen Krankenschwester rührte. Doch es gab keinen Grund, nicht mit der sympathischen Carina zu gehen, auch wenn es keine Hoffnung mehr auf ein Happyend zwischen ihr und Mario gab.
»Pünktlich wie die Eisenbahn«, lobte Fee, als Carina sie erreicht hatte und atemlos nach Luft schnappte.
»Ob das heute noch ein Kompliment ist, sei mal dahingestellt«, lachte die Lernschwester.
Doch ihr Lachen erreichte ihre grünen Augen nicht. Fee ahnte, warum das so war. Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass Mario Cornelius und die schöne Konditorin Marianne Hasselt Gefallen aneinander gefunden hatten. Auf dem Weg in die Pädiatrie hütete sich Felicitas Norden davor, dieses Thema gegenüber Carina anzuschneiden.
»Da haben Sie auch wieder recht«, gab sie ihr lächelnd recht und sah auf die Uhr. »Aber jetzt sollten wir uns beeilen, wenn wir rechtzeitig zum Schichtwechsel da sein wollen.«
»Ach, Mario ist nicht so streng«, war es Carina selbst, die die Sprache auf das Objekt ihrer Begierde brachte. Allmählich verfinsterte sich ihre Miene. »Zumindest nicht in letzter Zeit. Das wird wohl an dieser Bäckerei-Verkäuferin liegen«, bemerkte sie herablassend.
»Jeder Beruf verdient Anerkennung. Ob Verkäuferin, Krankenschwester oder Mathematikerin«, kam Felicitas nicht umhin, die junge Frau zurechtzuweisen. »Mal abgesehen