»Für die KI, die das Ding steuert, ist das der erste Flug in der realen Welt. Sie kam erst heute Morgen aus dem Inkubator.«
Sie wechselte auf einen stark verschlüsselten Kanal und schickte Cat eine Nachricht auf ihr Implantat: »Ich könnte das Ding selbst dann besser fliegen, wenn die Hälfte meiner Sensoren zerstört wäre und man mir zwei Tentakel auf den Rücken gebunden hätte.« Laut sagte sie nur: »Schnall dich besser an.«
Cat setzte sich direkt neben Helena. Sie beide waren die einzigen Passagiere in der großen Kabine, die vierundzwanzig großzügig verteilte Sitze beherbergte und für Truppentransporte ausgelegt war. Das Militär nutzte diese Art von Ausstattung, um gemischte Teams aus Menschen und Robotern zum Einsatzgebiet zu bringen.
Als der Verschluss ihres Gurtes einrastete, hörte man im Flugzeugrumpf ein lautes Knirschen, das darauf hindeutete, dass die Drohne in ihre Startkonfiguration ging. Gleich darauf heulten die Triebwerke unter Volllast auf. Sie schossen die Rollbahn hinunter und brauchten kaum ein Viertel der Startbahn, bevor sie abhoben. Über das Netz bemerkte Cat hunderte von Alarmmeldungen, als sie die Schallmauer durchbrachen, noch bevor sie das Stadtgebiet verlassen hatten.
»Ich verstehe, was du meinst«, bemerkte Cat und löste ihre verkrampften Hände von den Armlehnen.
Sie wandte sich Helena zu. Eine neue tiefe Schramme lief über die Oberfläche ihrer Keramikpanzerung. Mehr als ein halbes Dutzend Tentakel aus Speziallegierung, die für Fortbewegung, Kampf und feinmechanische Tätigkeiten genutzt werden konnten, umgaben ihren Zentralkörper, in dem sich Helenas Prozessoren, die Energieversorgung und die Sensoren befanden. Trotz ihres furchterregenden Aussehens war der Kampfbot loyal, ehrlich und fair. Außerdem war sie Cats beste Freundin. »Schön, dich wiederzusehen.«
»Geht mir genauso, mein Kätzchen. Wie hat Mike dich überredet?«
»Ich hatte die Wahl zwischen Windelwaschen und diesem Einsatz. Hast du jemals Windeln gewaschen?«
»Ich muss passen. Aber wer hat sich denn um Ada und euer Haus gekümmert, als du und Leon unter Schlafmangel litten? Außerdem könntest du deinen Geruchssinn abschalten. Dann ist es gar nicht mehr so schlimm.«
Cat erstarrte und sah Helena an. Das stimmte eigentlich: Mit ihrem Neuralimplantat hatte sie die komplette Kontrolle über ihre Sinnesorgane. Sie konnte jeden Geruch, jedes Gefühl und jedes Abbild so lebensecht simulieren, als wären sie real. Und sie konnte genauso leicht jeden Geruch, jeden Anblick und jede Berührung ausblenden.
»Daran hast du wohl nicht gedacht?«, fragte Helena. Sie wackelte mit einem Tentakel. »Die Mutterschaft hat dein Gehirn ausgebremst. Du solltest weniger Zeit mit Spielsachen und mehr Zeit im Einsatz verbringen.«
Cat gab Helena einen spielerischen Klaps und lachte.
Als sie sich Miami näherten, rief Mike mit neuen Daten aus dem Institut an. Das universale soziale Reputationssystem, das die KIs dazu brachte, sich ethisch korrekt zu verhalten, führte auch dazu, dass sie jedes ungewöhnliche Verhalten meldeten, das ihnen auffiel. Da die KIs das Netz, die Stromversorgung und die Warenströme überwachten, also fast alle Aspekte der modernen Welt, bedeutete das, dass sie schnell jedes verdächtige Verhalten entdeckten.
»Mehrere KIs haben Schwankungen im Stromnetz eines Industriegebiets gemeldet«, sagte Mike. »Ich schicke euch die Koordinaten. Es könnte belanglos sein, vielleicht nur eine Fehlfunktion oder ein Amok laufender Replikator.«
»Verstanden«, antwortete Cat.
Sie hatte genug Erfahrung mit dem Institut, um zu wissen, wovor Mike sich am meisten fürchtete: Nicht lizenzierte Computer, die einer KI erlauben würden, sich der Kontrolle zu entziehen, ohne jegliche Überwachung ihrer Stärke und Rechenleistung.
Für gewöhnlich schickte das Institut operative Mitarbeiter, die sich um die Routineangelegenheiten kümmerten. Sie zogen Cat und Leon nur für die komplizierteren Aufgaben hinzu. Entweder war Mike wegen dieser Sache besonders besorgt und brauchte deshalb Cats einzigartige Fähigkeiten. Oder er wollte einfach nur freundlich sein und ihr eine Auszeit verschaffen.
»Es gibt noch mehr«, fuhr Mike fort. »Wir haben auf ältere Daten von WatchNet für die Umgebung des Gebäudes zurückgegriffen. Zwölf Menschen haben es am letzten Freitag betreten. Seitdem hat es niemand mehr verlassen.«
»Weswegen waren sie dort?«, fragte Cat.
»Da sind wir uns nicht sicher. Sie hatten alle Zeitarbeitsverträge, hauptsächlich für einfache Tätigkeiten. Könnte alles Mögliche gewesen sein, von Arbeiten an Fertigungsanlagen bis hin zu Möbeltransporten.«
»Warum hat die Firma keine Roboter eingesetzt?«
»Unbekannt«, antwortete Mike. »Sobald wir neue Informationen bekommen, geben wir sie sofort an euch weiter. Bitte seid vorsichtig.«
Als ihre Flugdrohne im Endanflug war, spürte Cat angesichts der bevorstehenden Mission einen Adrenalinschub. Sie hatte die letzten Minuten mit Qigong verbracht, eine stille Meditation, die ihren Geist und ihren Körper beruhigte. Mit geübter Leichtigkeit brachte sie ihr Implantat auf Maximalleistung, was ihre Reflexe beschleunigte und ihren Verstand mit zusätzlicher Prozessorleistung unterstützte. Es gab ihr auch genügend Kontrolle über ihr Nervensystem, sodass nicht zu viel Adrenalin ausgeschüttet würde, was zu schlechten Entscheidungen führen konnte.
Die Militärdrohne setzte sie an der Homestead Air Base der Nationalgarde ab, wo ein Armeetransporter auf sie wartete. Ein einsamer Kampfbot begrüßte sie und übertrug ihnen die Zugangscodes für den Transporter. Cats Implantat zeichnete sie auf und sie übernahm die Kontrolle über das Fahrzeug.
Sie fuhren in nördlicher Richtung. Helena und Cat saßen nebeneinander in der geräumigen Kabine. Cat meditierte, verdrängte die Fahrgeräusche aus ihrem Bewusstsein, bis sie mühelos ins Netz glitt und die anderen autonomen Fahrzeuge umleitete, um ihren Weg freizumachen. Sie rasten in der Mitte der nun leeren Straßen, bis sie nach nur fünfzehn Minuten das Industriegebiet erreichten.
Als sie sich dem Zielgebäude näherten, tastete sich Cat durch das Netz vor, aber sie bemerkte nichts. Sie warf einen fragenden Blick zu Helena hinüber.
»Nein. Ich erkenne auch nichts, obwohl meine Infrarotsensoren anzeigen, dass die Wärmeabstrahlung des Lagerhauses fast zwanzig Grad höher ist als die der umliegenden Gebäude. Was immer es auch ist, es ist hochgradig exotherm.«
»Hoher Stromverbrauch und dann auch noch exotherm. Das klingt nicht gut.«
»Könnten Industriemaschinen sein«, sagte Helena. »Oder eine Serverfarm, was schlimmer wäre.«
Cat verzog das Gesicht. »Oder außer Kontrolle geratene Nanotech.«
Wenn es eine Sache gab, die bedrohlicher war als eine KI, die die Kontrolle der globalen Infrastruktur an sich riss, dann war es sich endlos replizierende Nanotechnologie.
Nanotech, Maschinen von Molekulargröße, konnten dazu benutzt werden, Nanobots herzustellen. Es waren zellgroße Roboter, die jede Art von Materie in weitere Kopien von sich selbst umwandeln konnten. Nanobots gab es praktisch überall und sie wurden für nahezu alles benutzt, sei es bei der strukturellen Verstärkung von Gebäuden oder bei der Unterstützung des menschlichen Immunsystems. Von einer KI programmiert, taten sie exakt das, wofür sie gedacht waren. Aber mit den falschen Befehlen konnten sie den gesamten Planeten mitsamt jedem Lebewesen in eine einzige brodelnde Masse aus Naniten verwandeln.
»Unwahrscheinlich«, erwiderte Helena. »Dagegen gibt es vielfach gestaffelte Sicherheitsmaßnahmen.«
»Wir haben auch Sicherheitsmaßnahmen gegen das Fehlverhalten von KIs, und doch werden wir immer wieder angefordert, um uns um solche Probleme zu kümmern.«
Sie hielten am Straßenrand und stiegen aus dem Fahrzeug. Nebeneinander gehend untersuchten sie das einfache weiße Gebäude aus einer Entfernung von fünfzehn Metern.
»Seit wir angekommen sind, ist die Temperatur im Gebäude um weitere fünf Grad gestiegen«, mahnte Helena.
Cat suchte nach einer Kamera oder einem Sensorsystem