John Eldredge

Ganz leise wirbst du um mein Herz


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können. C. S. Lewis kannte diese Sehnsucht sehr gut:

      War nicht sogar in deinen Liebhabereien immer eine geheime Anziehungskraft, welche die anderen seltsamerweise nicht wahrnahmen, etwas, das zwar nicht einfach gleichgesetzt werden konnte mit dem Duft von geschnittenem Holz in der Werkstatt oder mit dem gleichmäßigen Klatschen des Wassers gegen die Bootswand – das aber doch – ganz dicht unter der Oberfläche – in diesen Dingen lag, stets im Begriff, hervorzukommen?

      Werden nicht alle Freundschaften in dem Augenblick geboren, in welchem man endlich einem anderen menschlichen Wesen begegnet, das eine selbst im besten Fall nur schwache und undeutliche Ahnung von jenem Etwas hat, wonach zu verlangen man selber eigentlich geboren ist und wonach man, tief unter der Flut anderer Begierden und in einem jeden Augenblick des Schweigens zwischen den lärmenderen Leidenschaften, Tag und Nacht, Jahr für Jahr, von der Kindheit bis zum Alter Ausschau hält, worauf man wartet und wonach man lauscht? Niemals haben wir es „gehabt“. Alle Dinge, die je unsere Seele im tiefsten ergriffen haben, waren nur Anzeichen davon – Blicke von schmerzlicher Flüchtigkeit, nie ganz erfüllte Versprechen, ein Echo, das sogleich dahinstarb, wenn es unser Ohr erreichte. Würde es sich aber wirklich offenbaren, würde je ein Echo kommen, das nicht dahinsterben, sondern anschwellen würde zum vollen Ton – dann würden wir es erkennen. Weit entfernt von aller Möglichkeit eines Zweifels würden wir sagen: „Hier ist endlich das, wofür ich geschaffen bin.“

      Wir können uns gegenseitig nichts darüber erzählen. Es ist die geheime Signatur jeder Seele; das unmittelbare und unstillbare Verlangen; das, wonach wir uns sehnten, noch ehe wir unserer Frau begegnet waren, noch ehe wir einen Freund gewonnen und ehe wir unseren Beruf wählten; das, wonach wir noch auf unserem Sterbelager verlangen werden, wenn die Seele nichts mehr weiß von Frau, Freund und Arbeit. Dies ist da, solange wir sind. Verlieren wir dies, dann verlieren wir alles.

      Kunst, Literatur und Musik haben allesamt die Romanze – oder ihren Verlust – dargestellt und erforscht in Myriaden von Szenen, Bildern, Klängen und Figuren, die dennoch aus ein und derselben Geschichte zu uns sprechen. Die Universalität der Geschichte ist der Grund, warum die Dramen Shakespeares, obwohl sie aus dem ländlichen England über eine Kluft von vierhundert Jahren hinweg zu uns sprechen, dies so beredsam und verlässlich tun, dass sie immer noch auf Bühnen von Tokio bis New York aufgeführt werden.

      Es ist, als hätte uns jemand in den Geschichten in unserem Herzen eine Heimsuchung hinterlassen, die uns nicht loslässt; die sich auch nicht einfangen und ordnen lässt. Die Romanze kommt und geht, wie sie will. Und so werden wir von ihr heimgesucht.

      Was hat diese Romanze mit Gott zu tun? Könnte es sein, dass die mehr buchstäbliche, in Lehrsätze gefasste Botschaft des Christentums, die wir gemeinsam im Glaubensbekenntnis rezitieren, dieselbe geheime Botschaft ist, die jene Sänger an jenen lang zurückliegenden Sommerabenden meiner Kindheit einander und mir mitteilten? Hat Gott uns allen die Heimsuchung dieser Göttlichen Romanze hinterlassen, um uns nach Hause zu ziehen?

      Selbst wenn diese schmerzliche Sehnsucht die einzige tiefe Erfahrung unserer Seele wäre, würden wir nicht den Mut verlieren. Unser Durst mag noch nicht gestillt sein, aber wir würden unser ganzes Leben lang danach streben. Es gibt genügend Hinweise und Spuren und „verlockende Ahnungen“, um uns immer weiter suchen zu lassen, das Herz stets offen und bereit für diese Suche. Aber da ist noch eine andere Botschaft, die in unterschiedlichen Schattierungen und Ausmaßen zu uns allen kommt, schon in unseren frühen Jahren. Oft kommt sie scheinbar aus dem Nichts und ohne jeden erkenntlichen Grund. Sie ist dunkel, machtvoll und bedrohlich. Ich nenne sie die Botschaft der Pfeile.

      3

      DIE BOTSCHAFT DER PFEILE

      Ich weinte, als ich geboren wurde, und jeder Tag zeigt, warum.

       George Herbert

      Es gibt nur zwei Dinge, die das menschliche Herz durchdringen, schrieb Simone Weil. Das eine ist die Schönheit. Das andere ist die Not. Und wenn wir auch wünschen mögen, es gäbe nur Schönheit in der Welt, so hat doch jeder von uns genügend Leid erlebt, um ernsthafte Zweifel an dem Universum, in dem wir leben, zu hegen. Schon von frühester Kindheit an lernen wir eine andere Botschaft kennen, die uns warnt, dass die Romanze einen Feind hat.

      Der Psalmist spricht von diesem Feind und sagt uns, dass wir ihn nicht zu fürchten brauchen:

      Er [Gott] bewahrt dich vor versteckten Gefahren und vor tödlicher Krankheit.

      Er wird dich behüten wie eine Henne, die ihre Küken unter die Flügel nimmt.

      Seine Treue schützt dich wie ein starker Schild.

      Du brauchst keine Angst zu haben vor den Gefahren der Nacht oder den heimtückischen Angriffen bei Tag.

      (Psalm 91,3-5)

      Dennoch können wir nicht leugnen, dass die Pfeile uns alle getroffen haben, manchmal in einem Hagel von Geschossen, der die Sonne verdüsterte, zu anderen Zeiten in einer verborgenen Flugbahn, sodass wir erst Jahre später, als die Wunde sich entzündete und aufbrach, erkannten, dass wir getroffen worden waren.

      Einer der ersten Pfeile, an die ich (Brent) mich erinnere, traf mich an einem Herbstmorgen, als die grünen Chöre des Sommers nicht mehr da waren, um mich zu trösten. Eines Morgens, bevor die Schule anfing, traf ich meine Mutter am Herd an, wo sie Haferbrei rührte. Sie hatte geweint, und die Tränen standen ihr immer noch in den Augen. Es war nicht die Art von Tränen, wie sie sie im Zorn oder auch im Schmerz wegen einer vorübergehenden Auseinandersetzung mit meinem Vater vergoss. Sie waren auch nicht durch irgendeine kürzlich eingetroffene Nachricht über eine Krankheit oder einen Todesfall in der Familie ausgelöst worden.

      Es waren die Tränen eines verängstigten Mädchens von Mitte zwanzig, das keinen gemeinsamen Nenner fand zwischen dem Leben, das sie als Ehefrau und Mutter führte, und den Bedürfnissen ihres eigenen verwundeten Herzens, das niemals die Verbindung mit Mutter und Vater empfunden hatte, die so notwendig ist, um Mut und Hoffnung für das Leben zu finden. Das hätte ich damals nicht so formulieren können, aber ich spürte die Furcht wie einen greifbaren Feind, der schnell beseitigt werden musste. Wenn es einen Gegner des Herzens gab, mit dem selbst Erwachsene nicht fertig werden konnten, dann war meine Welt viel weniger sicher, als ich geglaubt hatte. Ich trat schnell hinzu, um meiner Mutter zu helfen, diesen Feind zu überwinden, so gut ich es vermochte.

      Ich glaube, ich legte meine Hand auf ihren Arm und sagte irgendetwas wie: „Es wird alles gut.“ Ich weiß noch, dass ich schon damals eine Trennlinie in mir selbst und zwischen mir und ihr empfand, die mich davon abhielt, sie Mutti oder Mama zu nennen. Ich verstand nicht, dass in uns beiden schon die Pfeile steckten. Sie machte ein wütendes Gesicht, dass jemand etwas so Dummes glauben konnte, und sagte etwas wie: „Es wird nicht gut. Ihr Kinder habt ja keine Ahnung, wie das Leben ist.“

      Mein Stiefvater war nicht zur Stelle, um mir zu zeigen, wie man solche Pfeile abwehrt, und so drangen sie in mich ein und blieben, wie ich später erkannte, tief in mir stecken. Noch später begriff ich, dass auch er nicht wusste, wie der Feind zu besiegen war, weder für sich selbst noch für mich.

      Diese andere Botschaft der Pfeile, die ich an solchen Morgenden im Herbst und Winter kennen lernte, erschien mir genauso stark und oft noch stärker als die Botschaft jener Sänger am Bachufer im Sommer. Ich weiß noch, wie ich allein in der Schul-Cafeteria saß und versuchte mir die Pfeile herausziehen oder sie zumindest zu verbergen, um mich an dem ausgelassenen Treiben beteiligen zu können, das meinen Freunden so leicht zu fallen schien. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Spielplatz von einem Freund, der größer war als ich, zu Boden gedrückt wurde und an das Gefühl, das würde für immer mein Platz sein, wenn ich nicht aufpasste.

      Ich weiß noch, wie ich eines Morgens mit fünf oder sechs Jahren im Schlafanzug in der Küche unseres alten Farmhauses stand, als zwei Männer mit Filzhüten und langen Mänteln hereinkamen und fragten, wo meine Eltern seien. Sie stellten einige Fragen, die ich alle mit „Ich weiß nicht“ beantwortete. Schließlich wandten sie sich angewidert ab und sagten zum Abschied: „Du weißt überhaupt nicht viel, was, Junge?“

      Im