Kranemeyer ignorierte die Bemerkung und gemeinsam liefen sie auf die Tür ins Innere des Gebäudes zu. »Mein Team hat bereits einen Notfallplan ausgearbeitet. Er liegt auf Ihrem Schreibtisch. Sie warten nur noch auf Ihre Zustimmung, um ihn umzusetzen.«
»Notfallplan?«, keuchte Shapiro, der immer noch nach Luft rang.
»Eine Liste von Einsätzen, die so schnell wie möglich über die Bühne gehen müssen. Informanten, die exfiltriert werden müssen. Es wird einige Ressourcen kosten, sie alle herauszuholen, aber wir schulden diesen Leuten etwas.«
Shapiro bliebt abrupt stehen und starrte den DCS verwundert an. »Wovon reden Sie da eigentlich?«
»Es mag sich vielleicht gefühllos anhören«, erwiderte Kranemeyer, der mit kalten Augen Shapiros Blick standhielt, »aber es wäre für uns alle das Beste, wenn wir wüssten, dass Lay bereits tot ist.«
»Was?«
Der DCS hob eine Hand. »Solange er da draußen noch am Leben ist und sich womöglich in der Hand von Terroristen befindet, müssen wir davon ausgehen, dass jede Geheimoperation und jeder Agent und Informant, von denen er Kenntnis besaß, in Gefahr schwebt. Informationen, die an den Meistbietenden verschachert werden können. Und diese Liste ist länger als mein Arm.«
»Mein Gott, Sie glauben doch nicht etwa, dass er uns verraten würde, oder? Dann kennen Sie David aber schlecht …«
»Bei allem nötigen Respekt, Sir«, knurrte Kranemeyer und schob sich nahe genug an Shapiro heran, um dessen Leibwächter zu alarmieren, »aber Sie waren noch nie im Einsatz. Mit genügend Zeit und Ressourcen kann jeder Mann gebrochen werden. Und auf Basis dieser Annahme müssen wir handeln.«
07:41 Uhr
NCS-Einsatzzentrale
Korsakovs Dossier als unvollständig zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts gewesen. Ihr Wissensstand über ihn enthielt große Löcher, die sich so auch in der Akte widerspiegelten. Niemand schien Kenntnis darüber zu haben, was er in der Zeit zwischen seiner Entlassung aus der russischen Armee 2000 und dem Anschlag auf Bürgermeister Anton Surorov 2002 getan hatte.
Aber eines schien sicher: Während dieser zwei Jahre war Korsakov zu einem zuverlässigen Mitglied der Mafyia geworden.
Ein störender Piepton informierte Harry über eine neue E-Mail, und in Erwartung eines Updates von Tex oder Carter scrollte er durch die Anzeige.
Die Nachricht war in seinem privaten E-Mail-Account eingegangen, stellte er mit wachsender Unruhe fest. Nur wenige Menschen kannten diese Adresse, und noch weniger benutzten sie.
Der Betreff lautete »CRITIC« und der Absendername war nur eine Ansammlung unzusammenhängender Buchstaben. Die Nachricht war über einen freien E-Mail-Anbieter irgendwo in der Tschechischen Republik verschickt worden.
Der Inhalt der E-Mail war so knapp wie der Betreff selbst gehalten. Er kniff die Augen zusammen und überflog den Text. Parkgarage, Tiefgeschoss, fünfte Reihe. Freefall.
Das letzte Wort ließ ihn stutzig werden. Freefall. Eigentlich zwei Worte. Ein Codewort aus alten Tagen.
Und in diesem Augenblick wusste er, wer der Absender gewesen war, und was die Nachricht bedeutete.
Sie waren verraten worden … ein weiteres Mal.
07:49 Uhr
Das CIA-Hauptquartier
Der Name auf seinem Ausweisschildchen lautete Alex Hall. Als Angestellter einer der vielen Privatfirmen, welche die CIA zur Erledigung von Wartungsarbeiten beschäftigte, hatte er die letzten fünf Tage damit verbracht, die Beleuchtung in der Tiefgarage unter dem Gebäude des Hauptquartiers neu zu verkabeln.
Als er sich dem letzten Kontrollpunkt näherte, erlaubte er sich, ein schmales Lächeln über sein Gesicht huschen zu lassen. Wie bei so vielen anderen Sicherheitsdiensten der Welt sorgte man sich auch hier sehr viel weniger um die Menschen, die den Komplex verließen, als um jene, die hinein wollten. Außer einer kurzen Leibesvisitation und einer Kontrolle seines Fahrzeuges – wie bei allen externen Unternehmen – hatte er keine Schwierigkeiten bekommen.
»Heute schon früher Schluss?«, erkundigte sich der Wachmann, während Hall ihm seinen Ausweis überreichte. In der Frage lag kein persönliches Interesse. Nur eine kalte, unpersönliche Routine.
Hall nickte und nahm die Hand vom Lenkrad, um damit ein müdes Gähnen zu verbergen. »Hab die ganze Nacht damit zugebracht, Schaltkreise zu ersetzen. Dafür sollten die Lichter in der Tiefgarage schon bald wieder dann angehen, wenn sie es sollen.«
Der Wachmann nickte, gab ihm sein Ausweisschildchen zurück und gab ein Zeichen, die Schranke hochzufahren.
Hall tippte das Gaspedal an und ließ den Wagen vorsichtig auf die Zugangsstraße hinausrollen, von der aus man auf den Highway gelangte. Geschafft.
Das Handy in seiner Tasche brummte und er kramte es mit seiner freien Hand hervor. »Hallo.«
»Aleksandr«, begann eine ihm vertraute Stimme, »ist das Paket in der Garage platziert?«
»Ja.«
»Bolshoe spasibo«, antwortete die Stimme. Ich danke dir vielmals. »Wir sehen uns bald, Towarischtsch.«
Der Anruf endete, als Aleksandr den Highway erreichte, und er öffnete das Fahrerfenster und ließ das Prepaid-Handy auf den Asphalt fallen.
Binnen Sekunden wurde es unter den Rädern eines anderen Fahrzeuges zermalmt.
07:53 Uhr
Die Tiefgarage
CIA-Hauptquartier
Verraten. Und wieder hatte es das Leben eines Freundes gekostet. Harry spähte zu dem stets wachsamen Auge der Sicherheitskamera hinauf, als sich die Fahrstuhltüren in die dahinterliegende Dunkelheit öffneten. Einige Handwerker, die sorgfältig vom FBI überprüft worden waren, hatten hier seit Wochen neue Kabel für die Beleuchtung verlegt. Offenbar waren die Arbeiten aber noch nicht abgeschlossen, zumindest nicht auf dieser Etage.
Die Tiefgarage war eines der besser gehüteten Geheimnisse der Agency. Man hatte sie in den Jahren nach dem elften September unter dem neuen Hauptquartiersgebäude errichtet. Amerika war nicht das einzige Land mit Spionagesatelliten … nicht mehr.
Reihe fünf. Zwei Worte, aufgeladen mit doppelter Bedeutung. Er schlängelte sich zwischen den Autos hindurch und zählte im Kopf die Betonsäulen ab.
Drei … vier. Und dann die fünfte Säule, in einer dunklen Ecke, die wenigstens drei Meter von der nächsten Lichtquelle und weit genug von der nächsten Sicherheitskamera entfernt war. Er ging in die Hocke und strich mit den Fingern über den feuchtkalten Beton.
Nichts. Für einen Moment dachte er, er hätte die Nachricht fehlinterpretiert und dass vielleicht eine andere Säule in einer anderen Ebene der Tiefgarage gemeint war. Oder vielleicht gar keine echte Säule. Wenn er falschlag … lief ihnen die Zeit davon.
Freefall.
Doch dann schlossen sich seine Finger um einen wasserdichten Beutel und er zog ihn zu sich heran. Der Beutel enthielt ein Handy, höchstwahrscheinlich ein Prepaid-Telefon. Er lehnte sich gegen den nächsten Wagen, hielt es in die Höhe und schaltete es ein. Das war sein Kommunikationsmittel. Musste es sein.
Unter den Kontakten gab es keinen Eintrag. Es gab auch keine Nummer unter den vermissten Anrufen, die er hätte zurückrufen können, und selbst dann hätte er hier unten auch keinen Empfang gehabt. Das Telefon schien absolut sauber zu sein – ein Wegwerftelefon, ganz sicher. Aber wozu? Lay war beinahe seit einer Stunde tot.
Und dann fand er es, im Ordner mit den Dateien … ein MP3 mit einer Sprachnachricht. Als er die Datei aufrief,