zu tun, wenn wir uns mit dem auseinandersetzen würden, was die Leute erzählen.«
Ein erstaunter Blick traf ihn. »Mit dieser Haltung dürften Sie ziemlich allein dastehen«, meinte Leonid.
»Mag sein. Wir halten es jedenfalls so, und dabei werden wir auch bleiben. Auf diese Weise lebt es sich nämlich entspannter.«
Leonids dunkle Augen lächelten. »Sie glauben nicht, wie gern ich solche Worte höre.«
»Sie nehmen meine Einladung also an? Ich kann es nur wiederholen: Unsere Pferde allein sind einen Besuch wert.«
»Daran zweifele ich nicht, aber ich würde dennoch nicht kommen, wenn mir die Besitzer der Pferde unsympathisch wären«, erwiderte der junge Graf charmant. »Ja, ich komme sehr gern, Baron von Kant, aber vielleicht sollten Sie zuvor Ihre Gattin fragen, ob diese Einladung auch in ihrem Sinne ist.«
»Das muss ich nicht, denn das weiß ich auch so«, erklärte Friedrich.
»Da bist du ja!«, rief Johannes von Thalbach. »Ich suche dich schon überall, Leo. Du weißt, dass wir noch eine Verabredung haben?«
»Nein, das hatte ich vergessen«, gab Leonid zu. »Dann darf ich mich jetzt von Ihnen verabschieden, Baron von Kant?« Die beiden Männer wechselten einen kräftigen Händedruck, auch Johannes verabschiedete sich, dann gingen sie.
Friedrich machte sich auf die Suche nach seiner Frau. »Ich habe den russischen Grafen fürs nächste Wochenende zu uns eingeladen, Sofia«, sagte er, als er sie gefunden hatte. »Er hat zugesagt. Dir war er ja auch sympathisch, und da dachte ich, du bist mit dieser Einladung sicherlich einverstanden.«
Sie sah ihn so entgeistert an, dass er unsicher wurde. »Was ist denn?«, fragte er alarmiert. »Habe ich doch einen Fehler gemacht? Er meinte noch, ich solle dich lieber fragen, aber …«
Sie unterbrach ihn mit den Worten: »Und ich habe Clara eingeladen, Fritz. Die beiden werden sich gegenseitig die Augen auskratzen, wenn sie bei uns aufeinandertreffen.«
»Wir können es ihr sagen, dann kommt sie eben eine Woche später«, schlug der Baron vor. »Den Grafen würde ich ungern wieder ausladen, wir kennen ihn nicht gut genug, finde ich. Aber Clara würde doch Verständnis haben, meinst du nicht?«
Sofia hatte sich wieder gefangen, sie lächelte jetzt.
»Wir tun gar nichts, wir lassen sie beide kommen. Vielleicht klärt sich bei der Gelegenheit, warum sie so verrückt auf dieses Bild waren, Fritz. Ich muss nämlich gestehen, dass ich das schon gern gewusst hätte.«
»Das kann uns aber mächtigen Ärger bereiten«, warnte der Baron.
»Und wenn schon«, erwiderte seine Frau vergnügt. »Dann ist endlich mal wieder ordentlich Leben im Schloss.«
Er lachte, nahm sie in den Arm und küsste sie. »Auf deine Verantwortung, Sofia!«
»Auf meine Verantwortung«, bestätigte sie – und damit war der Fall erledigt.
*
Das Häuschen sah alt und mitgenommen aus, die Armut seiner Bewohner war ihm an allen Ecken und Enden anzusehen. Hier war ein Stück vom Putz abgeplatzt, dort fehlte eine Steinplatte in der ohnehin schiefen Treppe. Das Geländer, das zur verzogenen Haustür führte, war rostig, die
Fensterläden hingen schief in den Angeln. Das Dach war irgendwann notdürftig geflickt worden, aber einem kräftigen Regenschauer hielt es sicherlich nicht stand – geschweige denn einem richtigen Sturm.
Langsam ließ Irina ihre prüfenden Blicke über das Haus wandern, in dem Lili Ganghofer mit ihren Eltern und Geschwistern lebte. Es bot, alles in allem, einen wahrhaft traurigen Anblick. Sie hörte Kinderstimmen durch die undichten Fenster und holte tief Luft, dann klingelte sie.
Gleich darauf wurde die Haustür aufgerissen, ein Junge von etwa zehn Jahren erschien und starrte Irina an wie eine Erscheinung. Ihr wurde bewusst, wie fehl am Platze sie hier wirken musste in ihrer eleganten Kleidung. Der Blick des Jungen glitt von ihr ab zu ihrem Wagen, den sie am Straßenrand geparkt hatte. »Ist das Ihr Schlitten?«, fragte er ehrfürchtig.
»Ja, das ist mein Wagen«, antwortete sie. »Ich bin Irina Mahler, deine Schwester Lili arbeitet bei mir.«
»Hat sie was ausgefressen?«, erkundigte er sich interessiert. Dann wurde ihm offenbar klar, was das bedeuten konnte, und besorgt schob er eine zweite Frage nach: »Schmeißen Sie sie raus?«
»Um Himmels Willen, nein, ohne sie käme ich überhaupt nicht zurecht.«
Jetzt erschien Lili hinter ihrem jüngeren Bruder, sie wurde knallrot, als sie so unvermutet ihrer Arbeitgeberin gegenüberstand. »Frau Mahler … ist etwas passiert?«
»Alles in Ordnung«, erklärte Irina. »Darf ich hereinkommen? Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«
»Hereinkommen?« Lili sah aus, als sei sie einer Ohnmacht nahe. »Aber …«
»Sie geniert sich«, erklärte der Junge. »Sie hat uns schon oft erzählt, wie schön es bei Ihnen ist – und bei uns ist immer Chaos, weil wir zu wenig Platz haben.«
»Sei still, Patrick«, wies Lili ihn zurecht. Ihre Gesichtsfarbe erinnerte jetzt an die einer reifen Tomate.
»Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen, Lili«, sagte Irina rasch. »Es interessiert mich überhaupt nicht, ob bei Ihnen Chaos herrscht. Ich will nur mit Ihnen reden – und mit Ihren Geschwistern eigentlich auch. Ihre Eltern sind wohl noch nicht zu Hause?«
»Die arbeiten noch«, erklärte der Junge, von dem Irina jetzt
wusste, dass er Patrick hieß.
Nun erschienen auch die weiteren Geschwister, die Lili hastig und noch immer verlegen vorstellte: die fünfjährigen Zwillinge Mara und Tom, die zwölfjährige Sandra und der achtjährige Oliver.
Alle staunten Irina unverhohlen an.
Endlich hatte sich Lili durchgerungen, ihren Besuch ins Haus zu bitten. »Wir müssen in die Küche gehen, da ist am meisten Platz«, sagte sie.
Dort stand in der Tat ein großer zerschrammter Holztisch, an dem offenbar gerade Hausaufgaben gemacht wurden. Lili stellte Teewasser auf und bat ihre Geschwister, eine Ecke des Tischs freizuräumen, was sie bereitwillig taten. Es kam nicht allzu oft vor, dass sie Gäste hatten – und eine so elegante und offensichtlich wohlhabende Frau wie Irina hatte ihr kleines Haus noch nie betreten.
Schnell erkannte Irina, dass es zwar chaotisch aussah, aber nicht schmutzig, und das war ohne Zweifel Lili zu verdanken.
Der Tee war gut und stark, sie tranken ihn aus angestoßenen Tassen, andere gab es vermutlich nicht. Auf Irina ruhten sechs aufmerksame Augenpaare, in allen stand die Frage: Was willst du hier, warum bist du gekommen?
»Seid ihr gut in der Schule?«, erkundigte sie sich zum allgemeinen Erstaunen bei Sandra, Oliver und Patrick, obwohl sie ja die Antwort schon wusste, von Lili.
»Nee«, gab Patrick ganz unumwunden zu. Er wirkte am wenigsten eingeschüchtert. »Hier kann man nicht in Ruhe lernen – nie. Und weil wir sowieso schlecht mitkommen, macht die Schule auch keinen Spaß.«
»Würdest du denn gern in Ruhe lernen?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Patrick, plötzlich verlegen. »Ich weiß gar nicht richtig, wie das geht.«
Unerwartet meldete sich die zwölfjährige Sandra zu Wort. »Ich möchte das schon gern«, sagte sie leise. »Dann könnte ich vielleicht doch Tierärztin werden.«
Ihr achtjähriger Bruder Oliver fing an zu lachen. »Du und Tierärztin! Dafür muss man studieren, Sandra.«
»Ich bin gekommen, um euch einen Vorschlag zu machen«, sagte Irina ruhig. »Ich lerne mit euch, jeden Tag nach der Schule, während eure jüngsten Geschwister noch im Kindergarten sind.«
»Das geht nicht«, sagte Lili nach einer Weile verwirrt.
»Natürlich