er von fröhlicher Musik geweckt; er war mitten in ein ländliches Fest hineingeraten. Die Poststation lag nahe dem Platz. Während die Postillione die Pferde wechselten, sah er den Tänzen dieses heitren Völkchens zu, er sah hübsche, tändelnde Mädchen mit Blumen geschmückt, ausgelassene junge Männer und schließlich die runden weingeröteten Gesichter der angeheiterten alten Bauern. Kleine Kinder tollten übermütig umher, alte Frauen plauderten vergnügt; alles war einträchtig, und die Freude verschönte sogar die Kleider und die Tische, die man aufgestellt hatte. Der Platz und die Kirche boten ein Bild des Glücks; selbst die Dächer, die Fenster, die Türen des Dorfes schienen sich sonntäglich herausgeputzt zu haben. Gleich Sterbenden, denen das geringste Geräusch lästig ist, konnte Raphael weder einen Fluch noch den Wunsch unterdrücken, die Geigen möchten schweigen, all diese freudige Bewegung sich auflösen, der Lärm verstummen und dieses unverschämte Fest in alle Winde stieben. Verdrossen stieg er wieder in den Wagen. Als er noch einmal nach dem Platz zurücksah; gewahrte er, wie alle Freude verscheucht, die Bäuerinnen auf der Flucht und die Bänke verlassen waren. Auf dem Gerüst des Orchesters saß nur noch ein blinder Spielmann und entlockte seiner Klarinette ein schrilles Rondo. Diese Musik ohne Tänzer, dieser einsame Greis mit dem brummigen Gesicht, in Lumpen gehüllt, mir wirrem Haar, im Schatten einer Linde, das alles war wie ein grausiges Abbild des Wunsches, den Raphael geäußert hatte. In Strömen ging einer jener Wolkenbrüche nieder, der sich aus den Gewitterwolken im Juni häufig ebenso plötzlich ergießt, wie er aufhört. Das war etwas so Natürliches, daß Raphael, der ein paar weißliche Wolken am Himmel sah, die ein leichter Wind davontrieb, gar nicht daran dachte, sein Chagrinleder anzusehen. Er legte sich in die Ecke seines Wagens zurück, der bald auf der Straße weiterrollte.
Am nächsten Tage war er wieder zu Hause, in seinem Zimmer, an seinem Kamin. Er hatte sich ein großes Feuer machen lassen; es fror ihn. Jonathas brachte ihm Briefe. Sie waren alle von Pauline. Er öffnete den ersten ohne Eile und entfaltete ihn so gleichgültig, als handelte es sich um den grauen Bogen einer Zahlungsaufforderung, die sein Steuereinnehmer geschickt hatte. Er las den ersten Satz: »Abgereist! Aber das ist eine Flucht, liebster Raphael. Wie! niemand kann mir sagen, wo Du bist? Und wenn ich es nicht weiß, wer soll es dann wissen?« Mehr daraus zu erfahren, hatte er keine Lust; ungerührt nahm er die Briefe und warf sie ins Feuer. Mit stumpfem, unbeteiligten Blick sah er dem Spiel der Flammen zu, in denen das duftende Papier sich krümmte, zusammenschrumpfte, sich drehte und zerfiel.
Einige Papierfetzen flogen auf die Asche und ließen ihn Anfänge von Sätzen, einzelne Worte, halbverbrannte Gedanken erkennen, und er vergnügte sich ganz unbewußt damit, sie in den Flammen zu entziffern.
»An Deiner Tür gesessen … gewartet … Laune … ich gehorche … Nebenbuhlerinnen … ich nicht! … Deine Pauline … liebt … keine Pauline mehr? … Wenn Du mich hättest verstoßen wollen, hättest Du mich nicht verlassen … Ewige Liebe … Sterben …«
Diese Worte erregten in ihm eine Art Reue; er griff nach der Zange und rettete den letzten Fetzen eines Briefes aus den Flammen.
»… Ich habe gemurrt«, schrieb Pauline, »aber ich habe mich nicht beklagt, Raphael! Als Du mich von Dir entfernt hieltest, wolltest Du mir gewiß die Last eines Kummers ersparen. Vielleicht wirst Du mich eines Tages töten, aber Du bist zu gut, um mich leiden zu lassen. Oh, reise nie wieder so fort! Ich vermag den größten Qualen zu trotzen, aber nur, wenn ich bei Dir bin. Der Kummer, den Du mir antun könntest, wäre dann kein Kummer mehr; in meinem Herzen lebt eine viel größere Liebe, als ich Dir sie zeigen konnte. Ich kann alles ertragen, nur nicht, fern von Dir zu weinen und nicht zu wissen, was Du …«
Raphael legte dieses geschwärzte Bruchstück eines Briefes auf den Kamin; dann warf er es plötzlich in das Feuer zurück. Dieses Stück Papier war ein zu lebhaftes Bild seiner Liebe und seines unseligen Lebens.
»Hole Monsieur Bianchon!« befahl er Jonathas.
Als Horace kam, fand er Raphael im Bett.
»Lieber Freund, kannst du mir einen leicht opiumhaltigen Trank brauen, der mich in einem dauernden Halbschlaf hält, ohne daß der dauernde Gebrauch dieses Getränkes mir schadet?«
»Nichts leichter als das«, erwiderte der junge Arzt; »du müßtest jedoch schon ein paar Stunden am Tag wach sein, um zu essen.«
»Ein paar Stunden?« unterbrach Raphael; »nein, nein! Ich will höchstens eine Stunde auf sein.«
»Was hast du denn vor?« fragte Bianchon.
»Schlafen! Schlafen heißt doch leben!« antwortete der Kranke.
»Laß niemanden herein, wäre es auch Mademoiselle Pauline de Vitschnau!« wies er Jonathas an, während der Arzt sein Rezept schrieb.
»Ist noch eine Hoffnung, Monsieur Horace?« fragte der alte Diener den jungen Arzt, den er bis zur Freitreppe begleitet hatte.
»Es kann noch lange dauern, aber auch heute abend schon zu Ende sein. Bei ihm sind die Aussichten für Leben und Tod gleich. Ich verstehe den Fall nicht«, versetzte der Arzt und machte eine zweifelnde Gebärde. »Man muß ihn zerstreuen.«
»Ihn zerstreuen! Monsieur, Sie kennen ihn nicht. Er hat jüngst einen Menschen erschossen und hat nicht einmal Uff gesagt! Ihn zerstreut nichts.«
Raphael blieb einige Tage in das Nichts seines künstlichen Schlafes versenkt. Dank der Macht, die das Opium auf unsere Seele, das Materielle auf das Immaterielle, ausübt, sank dieser Mann von so gewaltiger, tätiger Phantasie auf die Stufe jener trägen Tiere, die in der Tiefe der Wälder in ihrem Bau aus Laubwerk hocken und keinen Schritt tun, um eine leichte Beute zu fassen.
Er hatte sogar das Licht des Himmels ausgelöscht; der Tag drang nicht mehr bis zu ihm herein. Gegen acht Uhr abends stand er auf; ohne sich seines Daseins klar bewußt zu sein, befriedigte er seinen Hunger und legte sich dann sofort wieder hin. Diese kalten, greisenhaften Stunden trugen ihm nur verschwommene Bilder, Erscheinungen, Schatten auf schwarzem Grund zu. Er hatte sich in tiefes Schweigen vergraben, in eine Verleugnung der Bewegung und des Denkens. Eines Abends erwachte er viel später als sonst und fand sein Essen nicht serviert. Er läutete Jonathas.
»Du kannst gehen«, sagte er zu ihm. »Ich habe dich reich gemacht, du wirst auf deine alten Tage glücklich sein; aber ich will dich nicht länger mit meinem Leben spielen lassen. Wie, du Elender! Ich spüre Hunger. Wo ist mein Essen? Antworte!«
Jonathas lächelte zufrieden, nahm eine Kerze, deren Flamme in der tiefen Dunkelheit der weitläufigen