konnte die beiden für zwei Greise halten, die in gleichem Maße zerrüttet waren: der eine durch die Zeit, der andere durch den Geist; dem einen stand sein Alter auf seine weißen Haare geschrieben, der jüngere hatte kein Alter mehr.
»Monsieur, ich habe nicht geschlafen!« sagte Raphael zu seinem Gegner.
Diese eisigen Worte und der fürchterliche Blick, der sie begleitete, ließen den wirklichen Herausforderer erzittern; sein Unrecht wurde ihm bewußt, und er schämte sich insgeheim seines Benehmens. Es lag in der Haltung, dem Klang der Stimme und den Bewegungen Raphaels etwas Seltsames. Der Marquis schwieg eine Weile, und jeder folgte seinem Schweigen. Unruhe und Spannung hatten ihren Höhepunkt erreicht.
»Es ist Zeit«, fuhr Raphael dann fort, »mir eine leichte Satisfaktion zu geben; gewähren Sie sie mir; sonst werden Sie sterben. Sie zählen in diesem Augenblick noch auf Ihre Geschicklichkeit und schrecken nicht vor einem Kampf zurück, der Ihnen jeden Vorteil zu bieten scheint. Nun, Monsieur, ich bin großzügig, ich warne Sie vor meiner Überlegenheit. Ich besitze eine schreckliche Macht. Um Ihre Geschicklichkeit zunichte zu machen, Ihre Blicke zu verschleiern, Ihre Hand zum Zittern zu bringen und Ihr Herz verzagt zu machen, ja selbst um Sie zu töten, brauche ich es nur zu wünschen. Ich will nicht genötigt sein, meine Macht zu gebrauchen, es kostet mich zuviel, sie auszuüben. Sie werden nicht der einzige sein, der sterben muß. Wenn Sie es also ablehnen, sich bei mir zu entschuldigen, wird Ihre Kugel trotz all Ihrer Übung im Morden in diesen Wasserfall fliegen, meine indessen, ohne daß ich ziele, mitten in Ihr Herz.«
Bei diesen Worten wurde Raphael von Stimmengewirr unterbrochen. Der Marquis hatte, während er diese Worte sprach, auf seinen Gegner beständig die unerträgliche Klarheit seines starren Blickes gerichtet, er stand aufgereckt mit undurchdringlichem Gesicht und sah aus wie ein zu allem entschlossener Wahnsinniger.
»Bring ihn zum Schweigen«, hatte der junge Mann zu einem seiner Sekundanten gesagt, »seine Stimme geht mir durch Mark und Bein!«
»Hören Sie auf, Monsieur. Ihre Reden sind unnütz!« riefen die Zeugen und der Wundarzt Raphael zu.
»Messieurs, ich erfülle eine Pflicht. Hat der junge Mann noch Verfügungen zu treffen?«
»Genug! Genug!«
Der Marquis blieb unbeweglich stehen, ohne seinen Gegner einen Augenblick aus den Augen zu lassen, der, von einer fast magischen Gewalt bezwungen, dastand wie ein Vogel vor einer Schlange: gezwungen, diesen mörderischen Blick zu ertragen, er floh ihn und wandte sich ihm doch immer wieder zu.
»Gib mir Wasser, ich habe Durst«, sagte er zu seinem Zeugen.
»Hast du Angst?«
»Ja«, antwortete er; »das Auge dieses Menschen ist brennend und macht mich verrückt.«
»Willst du dich bei ihm entschuldigen?«
»Es ist zu spät.«
Die beiden Gegner wurden einander auf 15 Schritt Entfernung gegenübergestellt. Sie hatten jeder ein Paar Pistolen bei sich, und nach dem vereinbarten Ablauf dieser Zeremonie sollten sie, nachdem die Zeugen das Zeichen gegeben hatten, nach Belieben jeder zwei Schüsse abfeuern.
»Was machst du, Charles?« rief der junge Mann, der Raphaels Gegner als Sekundant diente, »du schiebst die Kugel ein und hast noch kein Pulver drin!«
»Es ist mein Tod!« gab er zurück; »ihr habt mich so gestellt, daß mich die Sonne blendet.«
»Sie haben sie hinter sich«, sagte Valentin mit ernster, feierlicher Stimme. Er lud langsam seine Pistole und ließ sich weder durch das Zeichen, das schon gegeben war, noch durch die Sorgfalt, mit der sein Gegner auf ihn zielte, beirren.
Diese übernatürliche Sicherheit hatte etwas Furchterregendes, das selbst die beiden Postillione, die aus grausamer Neugier herbeigekommen waren, entsetzte. Ob er nun mit seiner Macht spielen oder sie erproben wollte, Raphael sprach mit Jonathas und sah ihn in dem Augenblick an, wo sein Gegner feuerte. Die Kugel zerriß einen Weidenzweig und klatschte ins Wasser. Raphael schoß aufs Geratewohl los, traf seinen Gegner ins Herz und zog schnell, ohne den zusammensinkenden jungen Mann weiter zu beachten, das Chagrinleder hervor, um zu sehen, was ihn ein Menschenleben kostete. Der Talisman war nur noch so groß wie ein kleines Eichenblatt.
»Nun, was habt ihr da zu glotzen, Postillione? Auf den Wagen! Vorwärts!« rief der Marquis.
Er langte noch am Abend in Frankreich an, reiste sofort in die Auvergne weiter und begab sich in die Bäder des Mont-Dore. Auf dieser Reise stieg aus seinem Herzen eine jener plötzlichen Eingebungen, die, wie ein Sonnenstrahl durch dicke Wolken auf ein dunkles Tal, unerwartet in unsere Seele fallen. Trauriges Licht, unerbittliche Erkenntnis! Sie erhellt, was geschehen ist, enthüllt uns unsere Fehler, und gnadenlos sehen wir uns selbst. Er begriff mit einem Mal, daß der Besitz einer Macht, mochte sie noch so gewaltig sein, nicht die Weisheit verlieh, sich ihrer zu bedienen. Das Zepter ist ein Spielzeug für ein Kind, eine Axt für Richelieu und für Napoleon ein Hebel, um die Welt aus den Angeln zu heben. Die Macht läßt uns, wie wir sind, nur die Großen macht sie noch größer. Raphael hätte alles tun können und hatte nichts getan.
In den Bädern des Mont-Dore traf er wieder die Gesellschaft, die sich stets eilig vor ihm zurückzog, wie die Tiere einen tot daliegenden Artgenossen fliehen, sobald sie ihn von weitem gewittert haben. Dieser Haß war gegenseitig. Sein letztes Abenteuer hatte ihn mit einer tiefen Abscheu vor der Gesellschaft erfüllt. So war es denn seine erste Sorge, eine von den Menschen weit abgelegene Bleibe in der Nähe der Bäder zu suchen. Er fühlte instinktiv das Bedürfnis, sich der Natur zu nähern und sich den wahren Empfindungen und einem gleichsam vegetativen Leben zu überlassen, wie wir es auf dem Land so gern tun. Am Tage nach seiner Ankunft erstieg er, nicht ohne Mühe, den Pic de Sancy und suchte die hochgelegenen Täler auf, die luftigen Höhen, die unbekannten Seen, die ländlichen Hütten auf diesem Gebirgszug, dessen herbe und wilde Schönheiten die Pinsel unserer Künstler zu locken beginnen. Manchmal finden sich da wunderbare Landschaften voller Anmut und Frische, die sich malerisch von dem düsteren Anblick der öden Berge abheben. Etwa eine halbe Meile von dem Dorf entfernt entdeckte Raphael eine Stelle, wo die Natur, schelmisch und mutwillig wie ein Kind, offenbar Vergnügen daran gefunden hatte, Schätze zu verbergen; als er diese zauberhaft schöne, unberührte Einsamkeit erblickte, beschloß er, hier zu leben. Hier mußte das Leben ruhig, ursprünglich und gedeihlich sein wie das einer Pflanze.
Man stelle sich einen