Honore de Balzac

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke


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hat­te: er ent­zog sich dem Ur­teilss­pruch ih­rer Mit­tel­mä­ßig­keit. Er lehn­te sich ge­gen ih­ren zu­dring­li­chen Des­po­tis­mus auf, er brauch­te sie nicht; um sich für die­ses heim­li­che Kö­nig­tum zu rä­chen, hat­ten sich alle in­stink­tiv ver­bün­det, um ihn ihre Macht spü­ren zu las­sen, ihn ei­ner Art Scher­ben­ge­richt zu un­ter­wer­fen und ihm zu zei­gen, daß sie ihn gleich­falls nicht brauch­ten. Zu­erst war er bei die­sem An­blick der Welt vol­ler Mit­leid; aber bald schau­der­te ihn, wenn er an die selt­sa­me Gabe dach­te, die ihm so den kör­per­li­chen Schlei­er, un­ter dem die in­ne­re Na­tur ge­bor­gen ist, lüf­te­te. Plötz­lich senk­te sich ein schwar­zer Vor­hang über die­ses düs­te­re Bild der Wahr­heit, und er fand sich al­lein in der furcht­ba­ren Ein­sam­keit, die das Los der Gro­ßen und Mäch­ti­gen ist. In die­sem Au­gen­blick über­fiel ihn ein hef­ti­ger Hus­ten­an­fall. An­statt ein ein­zi­ges der gleich­gül­ti­gen und ba­na­len Wor­te zu ver­neh­men, mit de­nen die zu­fäl­lig zu­sam­men­ge­führ­ten Mit­glie­der der gu­ten Ge­sell­schaft we­nigs­tens eine Art höf­li­ches Mit­leid heu­cheln, hör­te er feind­se­li­ge Rufe und lei­se ge­mur­mel­te Be­schwer­den. Die Ge­sell­schaft gab sich nicht ein­mal mehr die Mühe, sich für ihn zu ver­stel­len, viel­leicht weil er sie doch durch­schaut hät­te.

      »Sei­ne Krank­heit ist an­ste­ckend.« – »Die Di­rek­ti­on müß­te ihm ver­bie­ten, ins Kur­haus zu kom­men.« – »Es ist ja wahr­haf­tig po­li­zei­wid­rig, so zu hus­ten!« – »Je­mand, der so krank ist, soll nicht ins Bad rei­sen.« – »Er wird mir den Auf­ent­halt ver­lei­den.«

      Ra­pha­el stand auf, um sich der all­ge­mei­nen Ver­wün­schung zu ent­zie­hen, und ging im Saal auf und ab. Er woll­te einen Schutz fin­den und nä­her­te sich ei­ner jun­gen Dame, die ge­lang­weilt da­saß; er dach­te, ihr ei­ni­ge Schmei­che­lei­en zu sa­gen, aber als er her­an­trat, wand­te sie ihm den Rücken und tat so, als sähe sie den Tän­zern zu. Ra­pha­el fürch­te­te, an die­sem Abend sei­nen Ta­lis­man schon ge­braucht zu ha­ben; er fühl­te we­der den Wil­len noch den Mut, ein Ge­spräch zu be­gin­nen, so ver­ließ er den Sa­lon und zog sich in das Bil­lard­zim­mer zu­rück. Da sprach nie­mand mit ihm, kei­ner grüß­te ihn oder warf ihm auch nur den kür­zes­ten wohl­wol­len­den Blick zu. Sein von Na­tur aus nach­denk­li­cher Geist ent­hüll­te ihm wie in ei­ner Ein­ge­bung die all­ge­mei­ne und ver­ständ­li­che Ur­sa­che der Ab­nei­gung, die er her­vor­ge­ru­fen hat­te. Die­se klei­ne Welt ge­horch­te, viel­leicht un­be­wußt, dem großen Ge­setz, das die vor­neh­me Ge­sell­schaft re­giert, de­ren un­ver­söhn­li­che Moral sich vor Ra­phaels Au­gen völ­lig ent­hüll­te. Er sah in die Ver­gan­gen­heit zu­rück und er­kann­te das vollen­de­te Ur­bild die­ser Ge­sell­schaft in Fœ­do­ra. Er konn­te bei die­ser Ge­sell­schaft nicht mehr Mit­ge­fühl für sei­ne Lei­den fin­den als bei Fœ­do­ra für die Qua­len sei­nes Her­zens. Die fei­ne Ge­sell­schaft ver­bannt die Un­glück­li­chen aus ih­rer Mit­te, wie ein Ge­sun­der einen Krank­heits­trä­ger aus sei­nem Kör­per ab­stößt. Die Welt ver­ab­scheut Schmer­zen und Un­glück; sie fürch­tet sie wie eine an­ste­cken­de Krank­heit, und nie schwankt sie zwi­schen ih­nen und den Las­tern; das Las­ter ist ein Lu­xus. Wie er­ha­ben ein Un­glück auch sein mag, die Ge­sell­schaft weiß es her­ab­zu­wür­di­gen, es durch ein Witz­wort lä­cher­lich zu ma­chen; sie zeich­net Ka­ri­ka­tu­ren, um den ent­thron­ten Kö­ni­gen den Schimpf an den Kopf zu wer­fen, den sie von ih­nen er­lit­ten zu ha­ben glaubt; sie gleicht den jun­gen Rö­me­rin­nen im Zir­kus und be­gna­digt den ge­fal­le­nen Gla­dia­tor nie; sie lebt von Gold und Bos­haf­tig­keit. »Tod den Schwa­chen!« ist die Lo­sung die­ser Art Rit­ter­or­den, die es bei al­len Völ­kern der Erde gibt; denn über­all gibt es Rei­che, und die­ser Leit­spruch ist tief in die Her­zen ein­ge­gra­ben, die vom Reich­tum ver­här­tet oder von ari­sto­kra­ti­schem Dün­kel ge­schwol­len sind. Man den­ke an die Kin­der in ei­ner Lehr­an­stalt: das ist ein Bild der Ge­sell­schaft im klei­nen, aber ein Bild, das um so tref­fen­der ist, als es nai­ver und ehr­li­cher ist; stets gibt es da klei­ne He­lo­ten, Men­schen­kin­der, die zum Lei­den und Dul­den ge­schaf­fen sind und im­mer zwi­schen Ver­ach­tung und Mit­leid ste­hen: ih­rer ist das Him­mel­reich, sagt das Evan­ge­li­um. Man stei­ge auf der Stu­fen­lei­ter der or­ga­ni­schen We­sen noch et­was tiefer. Wenn un­ter dem Ge­flü­gel ei­nes Hüh­ner­hofs eins ver­letzt ist, dann ha­cken die an­de­ren mit den Schnä­beln auf es ein, rei­ßen ihm die Fe­dern aus und tö­ten es. Die­sem Grund­ge­dan­ken des Ego­is­mus treu, geht die Welt ge­gen ein Un­glück, das keck ge­nug ist, ihre Fes­te zu stö­ren, ihre Freu­den zu trü­ben, mit gren­zen­lo­ser Stren­ge vor. Wer am Kör­per oder an der See­le lei­det, wem es an Geld oder an Macht fehlt, ist ein Pa­ria. Er blei­be in sei­ner Ver­las­sen­heit! Über­schrei­tet er ihre Gren­zen, so fin­det er über­all Käl­te: fros­ti­ge Bli­cke, fros­ti­ges Be­neh­men, küh­le Wor­te, kal­te Her­zen. Er kann glück­lich sein, wenn er da, wo er Trös­tung such­te, nicht Schimpf und Schan­de ern­tet! Ster­ben­de, bleibt in eu­ren ein­sa­men Bet­ten! Grei­se, bleibt al­lein an eu­rem er­lo­sche­nen Herd! Arme Mäd­chen ohne Mit­gift, friert und brennt in eu­ren lee­ren Dach­stu­ben! Dul­det die Welt ein­mal ein Un­glück, dann nur, um es für ih­ren Ge­brauch zu­rechtzu­ma­chen, dar­aus Ge­winn zu schla­gen, ihm einen Pack­sat­tel über­zu­schnal­len, es an die Kan­da­re zu neh­men, ihm eine Scha­bra­cke auf­zu­le­gen, es zu be­stei­gen und ih­ren Spaß mit ihm zu trei­ben. Be­trüb­te Ge­sell­schafts­da­men, schafft euch ver­gnüg­te Ge­sich­ter an; er­tragt die Lau­nen eu­rer an­geb­li­chen Wohl­tä­te­rin; tragt ihre Hun­de spa­zie­ren; seid selbst ihre Af­fen­pin­scher, amü­siert sie, er­ra­tet ihre Wün­sche und seid im üb­ri­gen still! Und du, Kö­nig der La­kai­en ohne Li­vree, gie­ri­ger Pa­ra­sit, laß dei­nen Cha­rak­ter zu Hau­se; ver­daue ge­nau so wie dein Gast­ge­ber, wei­ne sei­ne Trä­nen, la­che sein La­chen, sei ent­zückt über sei­ne Wit­ze; willst du dich über ihn lus­tig ma­chen, war­te, bis er in Staub ge­sun­ken ist. So ehrt die Welt das Un­glück! Sie tö­tet es oder ver­jagt es, er­nied­rigt es oder ka­striert es.

      Die­se Be­trach­tun­gen ent­spran­gen Ra­phaels In­ne­rem mit der Ge­schwin­dig­keit ei­ner poe­ti­schen Ein­ge­bung; er blick­te um­her und fühl­te die un­heim­li­che Käl­te, wel­che die Ge­sell­schaft um sich ver­brei­te­te, um das Elend zu ent­fer­nen, und die noch ei­si­ger durch die See­le fährt als der Nord­wind im De­zem­ber durch die Glie­der. Er kreuz­te die Arme über der Brust, lehn­te sich an die Wand und ver­sank in tie­fe Schwer­mut. Er dach­te, wie we­nig Glück die­se gräß­li­che so­zia­le Ord­nung der Welt ver­schaff­te. Was denn schon? Ver­gnü­gen ohne Freu­de, Lus­tig­keit ohne Lust, Fes­te ohne Hei­ter­keit, Ra­se­rei ohne Rausch, kurz, das Holz oder die Asche ei­nes Her­des, aber ohne den Fun­ken, der die Flam­me ent­zün­de­te. Als er den Kopf hob, sah er, daß er al­lein war, die Spie­ler wa­ren ent­flo­hen. »Ich brauch­te ih­nen nur mei­ne Macht zu ent­hül­len, und sie wür­den mei­nen Hus­ten an­be­ten!« sag­te er bei sich. Mit die­sen Wor­ten warf er sei­ne Ver­ach­tung wie einen Man­tel zwi­schen sich und die Welt.